Verschwundene Reiche. Norman Davies
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Die Burgunder sprachen eine germanische Sprache, die der Sprache der Goten ähnelte, die ebenfalls aus Skandinavien kamen. Wie die Goten hatten sie die arianische Form des Christentums angenommen und waren wohl auch mit der Wulfila-Bibel vertraut, einer Übersetzung des Neuen Testaments ins Gotische, die der aus Nordbulgarien stammende Bischof Wulfila angefertigt hatte.19 Zudem hatten sie durch den Austausch mit verschiedenen nichtgermanischen Stämmen den hunnischen Brauch des Kopfbandagierens übernommen, bei dem der Kopf von Mädchen von klein auf durch fest geschnürte Bandagen in eine längliche Form gebracht wurde. Dies hatte die unbeabsichtigte Folge, dass ihre Gräber von den Archäologen sofort erkannt wurden.
Den Mittelpunkt von Gundahars Königreich bildete die alte keltische Hauptstadt Borbetomagus (Worms); es erstreckte sich im Süden bis nach Noviomagus (Speyer) und nach Argentoratum (Straßburg). Die Neuankömmlinge, die ungefähr 80.000 Personen umfassten, gingen in der gallisch-romanischen Bevölkerung auf. Sie werden in dem angelsächsischen Gedicht Widsith erwähnt, in dem Herrscher aus dem 5. Jahrhundert aufgeführt werden. Widsith, der »Fernreisende«, behauptete, er habe das Reich Gundahars persönlich besucht:
Mid Pyringum ic waes … ond mid Burgendum. Paer ic geag geþah. aer ic beag geþah. Me þaer Guðohere forgeaf Glaedlicne maþþum. Songes to leane. Naes þaet saene cyning! | Ich war bei den Thüringern … und bei den Burgundern. Dort schenkten sie mir einen Ring. Dort gab Gunthere mir Einen glänzenden Schatz Um mich für meine Lieder zu bezahlen. Er war kein schlechter König.20 |
Doch Gundahars Stellung war von Anfang an schwach. Sobald die römischen Behörden wieder Tritt gefasst hatten, entschieden sie, ihn zu vernichten. Im Jahr 436 holte der römische General Flavius Aetius, ein Diener von Kaiser Valentinian III., Attilas Hunnen ins Land und ließ sie die blutige Arbeit verrichten. Angeblich wurden 20.000 Burgunder getötet.
Das Massaker an den Burgundern ging in den Fundus der nordeuropäischen Mythen ein. Es hallt wider in zahlreichen nordischen Sagen; es liegt auch der Sage der Nibelungen zugrunde, oder wie die Nordmänner sie nannten, der Niflungar, der Nachfahren der Nefi und Verwalter eines legendären Burgunderschatzes. Gundahar kehrt hier wieder als Gunnar, und Gunnars Schwester Gudrun wird nach ihrer Heirat mit Atli (Attila) die Stammmutter eines berühmten Geschlechts.
In dem zur Lieder-Edda zählenden Atlilied (Atlaqviða) werden zahlreiche Ereignisse und Namen erwähnt, die charakteristisch sind für das 5. und 6. Jahrhundert, unter anderem auch Gunnar und Gudrun.21 In der germanischen Tradition dagegen ist das Niflheim (»Dunkle Welt«) von kriegerischen Riesen und Kleinwüchsigen bevölkert. Nybling ist der ursprüngliche Hüter des Schatzes; Gundahar wird zu Günter, Gudrun zu Kriemhild, und Kriemhild heiratet Siegfried (»Sieg des Friedens«), den Sohn von Sigmund und Sieglind. In diesen später entstandenen Mythen und Sagen werden die Burgunder oft noch als Franken bezeichnet. Das Nibelungenlied aus dem späten Mittelalter ist durch eine Mischung aus Fakten und Fantasie geprägt, doch der grundlegende historische Zusammenhang wird in der modernen Geschichtswissenschaft kaum noch bestritten:
Viel Wunderdinge melden die Mären alter Zeit
Von preiswerthen Helden, von großer Kühnheit,
Von Freund und Festlichkeiten, von Weinen und von Klagen,
Von kühner Recken Streiten mögt ihr nun Wunder hören sagen.22
Nach dem Massaker bei Borbetomagos verliert sich die Spur der Burgunder vorübergehend, doch bald taucht sie wieder auf in Berichten über die Schlachten zwischen Aetius und den Hunnen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine Gruppe von burgundischen Kriegern von den Hunnen gefangen genommen und zum Kriegsdienst gezwungen wurde, während andere unter dem neuen König Gundioch (reg. 437–474) in römische Dienste traten. Burgunder kämpften somit auf beiden Seiten in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern im Juni 451 (siehe dazu S. 31) zwischen dem römischen General Aetius und den Hunnen, wo Gibbon zufolge »das Schicksal der gesamten westlichen Zivilisation auf dem Spiel stand«. Nach seinem Sieg versprach Aetius Gundioch ein Reich in der Provinz Sabaudia (eine alte Form des heutigen Savoyen, siehe dazu Kapitel 8). Dieses Mal ließen sich die Burgunder mit offizieller Erlaubnis im Römischen Reich nieder, wenn vielleicht auch eine größere Zahl der Überlebenden von Borbetomagus ungeordnet nach Süden floh und die kaiserliche Zusage nur den vollendeten Tatsachen Rechnung trug. Sabaudia erscheint nicht auf der Liste von Bryce, und es stellt sich die Frage, warum er die Gebiete von Gundahar und Gundioch nicht als eigenständige Reiche erwähnte. Sie genügen seiner Definition eines geografischen oder politischen Namens, der »zu bestimmten Zeiten und in unterschiedlichen Gebieten« verwendet wird. Die Kenngrößen im Falle von Gundahar lauteten »Anfang des 5. Jahrhunderts, Niederrhein«, bei Gundioch »Mitte des 5. Jahrhunderts, Oberrhein und Saône«. Es gab keine Überschneidungen. Gundiochs Herrschaftsgebiet wird heute entweder als das »zweite föderierte Königreich« oder als das »letzte unabhängige burgundische Königreich« bezeichnet.23
Die Grenzen des zweiten burgundischen Reiches dehnten sich rasch aus. Das ursprüngliche Zentrum war Genava (Genf) am Lacus Lemanus (Genfer See), wo die Burgunder in ein Gebiet einwanderten, das kurz vorher durch die Vertreibung eines helvetischen Stammes frei geworden war. Kurze Zeit später wandten sie sich der Region am Zusammenfluss der Flüsse Arus (Saône) und Rhodanus (Rhône) im Herzen Galliens zu. Im Verlauf eines Jahrzehnts hatten sie sich in Lugdunum (Lyon), Divio (Dijon), Vesontio (Besançon), Augustodunum (Autun), Andemantunum (Langres) und Colonia Julia Vienna (Vienne) angesiedelt. Grenzfestungen in Avenio (Avignon) und in der Nähe des Rhône-Deltas sowie bei Eburodunum (Embrun) in den Bergen sicherten eine geschlossene territoriale Einheit mit herausragenden Verkehrsverbindungen.
Das wenige, was über die Burgunder zur Zeit ihrer Ankunft bekannt ist, stammt von einem gallisch-römischen Schriftsteller, der verfolgte, wie sie sich in seinem Heimatort Lugdunum niederließen. Sidonius Apollinaris dürfte 452, als er sie kennenlernte, ungefähr 20 Jahre alt gewesen sein. In seinen Briefen erwähnt er die »haarigen Riesen«, die »sieben Fuß groß« waren und die »in einer unverständlichen Sprache reden«.24 über diese burgundische Sprache wissen wir noch weniger. Einige Worte wurden in Gesetzestexten festgehalten (siehe unten), und die Bedeutung der überlieferten Namen der burgundischen Herrscher ist entschlüsselbar. Gundoband bedeutet »Tapfer in der Schlacht«, Godomar heißt »Berühmt in der Schlacht«. Einige heutige Ortsnamen lassen sich auf einen Personennamen zurückführen, an den die skandinavische Nachsilbe -ingos angehängt ist. Das Dorf Vufflens im Waadt beispielsweise wurde als »Vaffels Ort« übersetzt.25 Das ist nicht viel, an das man anknüpfen kann.
In dem Jahrhundert, das zwischen dem Ende des ersten und dem Ende des zweiten Reiches lag, sind fünf Könige überliefert, die alle der alten Linie von Gibica entstammen:
Gundioch/Gundowech (reg. 437–474)
Chilperich I. (reg. 474–480)
Gundobad