Unterwegs geboren. Christa Enchelmaier

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Unterwegs geboren - Christa Enchelmaier

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      Christa Enchelmaier

      Unterwegs geboren

      Eine heimatlose Kindheit

      Autobiografische Erzählung

      Für meine Kinder und Enkelkinder

      2000: REISE IN DEN UNBEKANNTEN OSTEN

      Ich hatte viel von Gnadental gehört, von dem weiten Land, der fruchtbaren Erde, dem guten Klima. Von dem Zusammenhalt der Dorfbevölkerung. Vom Schwarzen Meer und der heilenden Erde. Auch von den pietistischen Werten wie Frömmigkeit, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit. Wo war dieser ›Garten Eden‹ meiner Vorfahren? Ich wusste, dass er irgendwo im Osten am Schwarzen Meer liegen sollte. Ich fing an, mich für die Geschichte und das Land zu interessieren. Mit eigenen Augen wollte ich es sehen und erleben – das Land, in dem meine Eltern und Großeltern gelebt hatten. Das Land, von dem sie mir so viel erzählt hatten.

      Anfang September 2000 meldeten meine zwei Jahre jüngere Schwester Helga und ich uns zu einer Studienreise in die ehemaligen Heimatdörfer Bessarabiens an.

      Der Flughafen in Odessa war grau in grau. Wir waren im Ostblock. Die Koffer wurden rasch ausgeladen und standen in der Halle bereit, und nach kurzer Begrüßung durch unseren Reiseleiter ging es weiter in die ehemalige Kreisstadt Akkerman – heute heißt sie Belgorod-Dnes­trovski.

      Schon am nächsten Morgen fuhren wir mit einem Taxi in das etwa 30 Kilometer entfernte Dorf Gnadental, das heutige Dolinovka. Wir sahen riesige Felder und die schwarze Erde, von der unser Vater immer so geschwärmt hat. Wir konnten nachempfinden, wie schwer es unseren Eltern damals gefallen sein musste, dieses schöne Land, ihre Heimat, zu verlassen.

      Gnadental wurde 1830 von schwäbischen Kolonisten gegründet und musste 1940 wieder verlassen werden. Es liegt sehr schön in einem sanften Tal. Dennoch waren wir sehr enttäuscht und traurig, als wir in dieses Dorf hinein fuhren: Wir sahen ungepflegte Häuser, viel Unkraut und nur wenige Menschen auf den Straßen.

      Die einstmals stattliche Kirche mitten im Ort ist als solche nicht mehr zu erkennen. Die Bewohner haben einen Versammlungsraum daraus gemacht.

      Wir liefen durch die Obergaß zum Haus unseres Großvaters Friedrich. Dort wohnt inzwischen ein rumänisches Ehepaar mit zwei halbwüchsigen Söhnen und der Oma – gastfreundliche Leute, die uns ins Haus einluden und zum Abschied Trauben schenkten. Zwei Häuser weiter, am Ortsrand, stand der Hof unserer Eltern. Nur ein Erdhügel erinnert noch daran. Wir bedauerten sehr, dass von der mühevollen Arbeit unserer Eltern nichts übriggeblieben ist außer einem Haufen Erde.

      Helga sagte: »Komisch, ich habe das Gefühl, als sei ich schon einmal hier gewesen. Mir ist alles so vertraut!«

      Aber hier waren wir noch nie. Sie ist zwei Jahre nach der Umsiedlung im Warthegau geboren. Haben die vielen Erzählungen der Eltern dieses Heimatgefühl entstehen lassen?

      Danach suchten wir das Haus unseres Großvaters Daniel Hermann in der Mittelgaß. Doch außer einem verwilderten Grundstück haben wir nichts finden können. Auf dem Friedhof wollten wir daher wenigstens die Grabsteine unserer Verwandten aufsuchen. Aber wieder hatten wir kein Glück: Nur russische und rumänische Gräber fanden wir, keinen einzigen Grabstein, der an Deutsche erinnert.

      Maria, eine Frau aus dem Dorf, stand plötzlich vor uns. Sie sprach Deutsch und von ihr erfuhren wir, dass die Grabsteine zum Bau der Kolchose genommen und das Gelände danach eingeebnet worden war. Ein Grabstein sei dabei übersehen worden und der steht nun als einziger auf dem ehemaligen Gelände des deutschen Friedhofs. Er erinnert an einen der ersten Kolonisten in Gnadental, an Johann Christian Kappler. Er kam als 8-Jähriger 1831 mit seinen Eltern aus Kochersteinsfeld in der Nähe von Heilbronn.

      PROLOG

      1833 AUSWANDERUNG DES JOHANN DANIEL HERMANN

      Mein Vorfahre, Johann Daniel Hermann, ist mit seiner Frau Wilhelmine Katharina, geborene Gall, und vier Kindern am 24. September 1833 von Kleinheppach (Remstal bei Schorndorf) nach Gnadental in Südrußland–Bessarabien ausgewandert. Von Beruf war er Weingärtner und seit 1809 auch Richter, d.h. Gemeinderat in Kleinheppach. Der Grund für seine Auswanderung ist schnell erzählt.

      Die Bewohner von Kleinheppach führten ein karges Leben. Vorausgegangen war die Französische Revolution, die in den Jahren 1790 bis 1815 in der Gemeinde große Opfer gefordert hatte. Durchziehende Truppen plünderten und raubten den Einwohnern ihr Eigentum. Brandschatzungen standen auf der Tagesordnung. Hinzu kam, dass der Herzog in Stuttgart Rekruten aushob und Geld für die Rüstung eintrieb.

      Unter Napoleon mussten württembergische Truppen 1805 gegen Österreich, 1807 gegen Preußen und 1812 gegen Russland ins Feld ziehen. Das war ein furchtbares Drama: Von 15.800 Württembergern kehrten nur 300 zurück. Aus Kleinheppach kam kein einziger aus den Kriegen zurück.

      Dann war Frieden. Aber welche Tragik! 1816 war ein Hungerjahr, wie das Land es seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr erlebt hatte. So viel geregnet hatte es im Sommer noch nie und es war kalt wie im Winter. Weder Korn, noch Kartoffeln, noch Wein gediehen.

      Grund dieser Katastrophe war der Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien. Gigantische Massen Asche und Staub wurden 50 Kilometer hoch in die Luft geschleudert und verteilten sich um den ganzen Erdball und verursachten eine Abkühlung des Weltklimas. Der folgende Sommer ging in die Geschichte als ›Schneesommer‹ ein, weil keine Sonnenstrahlen durch diesen Dunstschleier dringen konnten. Scharen von Bettlern irrten auf den Straßen. Die Gemeindeverwaltung war auf solche Katastrophen nicht vorbereitet. Sie tat das Menschenmögliche, um die Not zu mildern und die Menschen durch den Winter zu bringen. Doch die Gemeinde war verarmt. Die meisten Magazine waren leer, Saatgut fürs kommende Jahr gab es nicht. Die wenigen verbliebenen Zugtiere versanken im Morast oder verhungerten. Die allgemeine Stimmung war düster.

      1816 wurde das bestehende Auswanderungsverbot aufgehoben. Zar Alexander von Russland schickte Anwerber aus, um Bauern und Handwerker aus Württemberg für eine Ansiedlung in Russland zu gewinnen. Er versprach jedem Bauern 66 Hektar Land, 10 Jahre Steuerfreiheit, eigene Verwaltung und Gerichtsbarkeit und freie Glaubensausübung. Und – was sehr wichtig war – keine Pflicht zum Militärdienst, und das auf ewig, außerdem den Status eines Kolonisten, das heißt ein russischer und ein deutscher hoher Beamter waren für die Belange dieser Volksgruppe zuständig. Sie sollten als Vermittler (Fürsorgekomitee) dafür sorgen, dass bei der Ansiedlung alle Versprechen eingehalten werden.

      Dieses Angebot kam für die verarmten Menschen im richtigen Augenblick.

      Viele machten sich wenig Hoffnung, dass es in Württemberg in nächster Zeit besser werden würde. Scharenweise verließen sie ihre Heimat. Die Ersten, die sich auf den Weg machten, besaßen weder Pferd noch Wagen. Mit der legendären ›Ulmer Schachtel‹, einem primitiven Floß, fuhren sie die Donau abwärts. Sie hatten Ausbeutung, Armut und Unterdrückung im absolutistisch regierten Württemberg satt. Hinzu kam noch die unsägliche Kirchenzucht, wo zum Beispiel ein Fehlen beim sonntäglichen Gottesdienst schon ein Vergehen war und streng bestraft wurde. Viele kehrten der Kirche den Rücken und schlossen sich separatistischen Bewegungen an.

      Auch die Anhängerzahl der Pietisten wuchs. Sie trafen sich in Privathäusern zur ›Stund‹ und legten dort in Eigenregie die Bibel aus.

      Mit der Zeit entstand eine Weltuntergangsstimmung.

      Und

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