Unterwegs geboren. Christa Enchelmaier

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Unterwegs geboren - Christa Enchelmaier

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Land, sondern auch um die Gemeinschaftseinrichtungen, Kirchen und Schulen, Organisationen, Zeitungen und vieles andere mehr. Vor allem sollten sie die festgefügten Dorfgemeinschaften aufgeben, die ihnen bis dahin den Rahmen ihres Lebens abgesteckt hatten. Was sie mitnehmen konnten, war die Lebenserfahrung, ihre Grundeinstellung zu Leben und Glauben.

      Christlicher Glaube bestimmte mit einer großen Selbstverständlichkeit das Leben in den deutschen Siedlungen Bessarabiens. Man sah es als Lebensaufgabe an, Gottes Gebote einzuhalten, den Worten der Bibel im Alltag zu folgen. Die Kirche war Mittelpunkt und Halt der Kolonisten.

      Bessarabien wurde nun nach 22 Jahren wieder eine russische Provinz. Aber Russland war inzwischen ein anderes Russland geworden – mit einer anderen Einstellung zum Privatbesitz.

      Auch hatte sich eine totale Wandlung in politischer und sozialer Hinsicht durch die Revolution vollzogen. Die Kommunisten waren an der Macht. Für die deutschen Kolonisten war das eine andere Welt, damit konnten sie sich nicht abfinden. Das neue Russland hatte die Deutschen als Pioniere nicht mehr nötig wie einst Zar Alexander, der sie ins Land rief.

      Gab es überhaupt eine Alternative zur Umsiedlung ins Reich?, fragte man sich. Das Schicksal der Deutschen im Schwarzmeergebiet wäre letztlich Schikane und Deportation, was viel schlimmer als eine Umsiedlung nach Deutschland gewesen wäre.

      Es war Mitte September und der Winter stand vor der Tür. Unschlüssig stand Anna vor ihrem Schrank. Was sollte sie mitnehmen, was konnte sie tragen? Nur 35 Kilogramm Handgepäck waren je Person erlaubt. All die prächtige Aussteuer, die schöne Wiege und die mit so viel Liebe gefertigte Babyausstattung! Wird das Kleine vor lauter Aufregung und Sorge noch vor der Abreise kommen? Die ›Placht‹, ein großes gewebtes Tragetuch, hatte sie schon bereitgelegt.

      ›Wo lege ich es schlafen‹, fragte sie sich, ›und wo kann ich unterwegs Windeln waschen und trocknen? Kann ich das Kind irgendwo baden, trockenlegen und stillen? Bekomme ich die richtige Babynahrung und frische Kuhmilch?‹ Fragen über Fragen und keine Antwort. Sie konnte es nicht fassen, dass sie in diesem Zustand ihr Haus verlassen sollte. Was passiert, wenn sie das Kind irgendwo unterwegs bekommt? Wenn es Komplikationen gibt, ärztliche Versorgung notwendig ist? Angst machte sich breit. In welch eine fatale Situation war sie geraten, und wie konnte sie mit ihr fertig werden?

      Anna war eine hübsche Frau mit einem ebenmäßigen Gesicht. Ihr dunkelblondes langes Haar hatte sie zu einem Knoten verschlungen, der ihren Hals zierte. Von Gestalt war sie eher zierlich, einen Kopf kleiner als Robert.

      Robert war groß und schlank mit dunkelblondem, welligem Haar. Was ihn auszeichnete, war seine Geradlinigkeit und die zupackende Art, mit der er tatkräftig und planvoll seine Aufgaben erledigte. Schlosser oder Schmied hätte er gerne gelernt. Fast alle seiner Schulkameraden lernten einen Beruf. Aber sein Vater hatte bestimmt: »Robert, du wirst Bauer!« Und das Wort des Vaters galt, Widerrede war nicht erlaubt.

      Um ihn gefügig zu machen, schickte er ihn zu einem Schneider in die Lehre. Drei Wochen saß Robert da mit untergeschlagenen Beinen am Tisch und stichelte mit seinen großen Händen im Stoff. Dann hielt er es nicht mehr aus, lieber wollte er ein freier Bauer auf einem eigenen Hof sein. Vater Friedrich hatte sein Ziel erreicht. So setzte er auch andere Entscheidungen durch. In seiner Amtszeit als Bürgermeister musste er mit den korrupten rumänischen Beamten auskommen. Das war außerordentlich schwierig. Am besten erreichte er seine Vorstellungen, wenn er sie zum Essen einlud und mit seinem Wein nicht sparte. Pauline, seine zweite Frau, tischte üppig auf und war im Umgang mit den Rumänen sehr geschickt.

      Robert war mit ein paar Helfern im Hof damit beschäftigt, einen Planwagen zu bauen.

      Im ganzen Dorf herrschte hektische Betriebsamkeit. Jede Familie hatte mit sich selbst zu tun. In allen Häusern wurde geschlachtet, gebacken, gebraten, gepackt und wieder umgepackt. Haltbare Lebensmittel wurden für die lange Reise zubereitet.

      Ihre neue Singer Nähmaschine wollte sie mitnehmen, überlegte Anna. Die hatte ihr Bruder Georg für sie in Deutschland gekauft und einführen lassen.. Nun machte sie den Weg wieder zurück! 1.000 Kilogramm Gepäck konnte jeder Pferdebesitzer mit dem Planwagen mitnehmen. Jede Person ab 14 Jahren durfte 2.000 Lei bei sich haben. Das war ein sehr bescheidener Betrag, doch selbst der war schon nach kurzer Zeit nicht mehr vom Sparkonto abzuheben, weil die Banken ohne Mittel waren.

      Umsiedlungskommissionen aus Vertretern Russlands und Deutschlands regelten den Ablauf.

      Wie war es wohl in Deutschland? Ihr Kind sollte dort zur Welt kommen, wenn Gott wollte. Deutschland – da ging es gerecht zu, da herrschte weder Korruption noch Ungerechtigkeit, dachte sie.

      Überall im Dorf hing der Aufruf, sich an einer bestimmten Stelle beim deutschen Bevollmächtigten zu melden und sich in die Umsiedlungslisten eintragen zu lassen. Mit der Registrierung legten die Kolonisten ihre rumänische Staatsbürgerschaft ab. Von Deutschland erhielten sie das Recht, einreisen zu dürfen. Eingebürgert wurden sie erst in den Umsiedlungslagern im damaligen ›Altreich‹. Zuerst sollten die alten Leute, Frauen und Kinder und diejenigen, die keine Pferde hatten, mit deutschen Omnibussen in die Donaustadt Kilia gebracht werden. Dort sollten alle mit Schiffen die Donau aufwärts in ein sogenanntes Umsiedlungslager befördert werden. Schon am 15. September 1940 hatte die Umsiedlungskommission vor, mit der Aktion zu beginnen.

      Im Dorf wurde erzählt, dass niemand auf seinem Hof bleiben darf. Diejenigen, die sich nicht zur Umsiedlung melden würden, kämen nach Sibirien.

      Sibirien – allein das Wort löste Ängste aus. Es hatte sich herumgesprochen, wie schlecht es den Deutschen ging, die dorthin verbannt worden waren. Am allermeis­ten fürchteten sie sich davor, Kolchosearbeiter werden zu müssen und weiter in den Osten oder ins Innere Russlands verschickt zu werden. Vater, Mutter, die Kinder, jeder in einen anderen Teil des Landes, unauffindbar, unerreichbar. Schrecklich war die Vorstellung, unter Fremden neu anfangen zu müssen, wieder Land zu kultivieren, hilflos der Behördenwillkür und fremden Menschen ausgeliefert zu sein.

      Von anderen Siedlungen weit im Osten hatten sie diese Dinge gehört. Und solch eine Zukunft fürchteten sie nun. Lieber wollten sie einen Neuanfang in Deutschland wagen, um freie Bauern und freie Menschen bleiben zu können. Deutsche im deutschen Vaterland!

      Alle Bewohner des Dorfes meldeten sich also zur sogenannten freiwilligen Umsiedlung an. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Es wurde ihnen versprochen, dass sie nach einer kurzen Zwischenzeit einen Bauernhof im Warthegau oder Pommern-Westpreußen zugeteilt bekommen würden. Genauso, wie es bereits mit den Balten-Deutschen und den Wollhynien-Deutschen erfolgreich durchgeführt worden sei. Das Deutsche Reich braucht tüchtige Bauern, hieß es immer wieder. Dass sie dort gebraucht würden, war ihnen ein Trost.

      Alle würden mitgehen, keiner wollte zurückbleiben – die Eltern, Geschwister und die vielen Verwandten.

      Die meisten waren reiche Bauern, die an Haus, Hof und Feld hingen. Annas Eltern gehörten zu den wohlhabendsten Bauern im Ort. Sie war mit neun Geschwistern aufgewachsen. So viele Kinder waren keine Seltenheit in Bessarabien, denn man hatte genug, sodass alle gut versorgt werden konnten.

      Zwei Brüder lebten mit ihren Familien in Annowka, einem Dorf, circa 50 Kilometer von Gnadental entfernt. Dort hatte ihr Vater schon vor längerer Zeit 50 Hektar Land gekauft und es den beiden Söhnen überschreiben lassen. Zwei Brüder waren Lehrer geworden, die ältere Schwester Lydia hatte in Stuttgart eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester absolviert. Emma hatte wie sie selbst einen Bauern geheiratet. Traugott war auch Bauer, zwei Schwestern waren noch nicht verheiratet.

      In der Bauernschule im Nachbarort Arzis wurden seit einigen Jahren Lehrgänge im Weben, Nähen und Zuschneiden angeboten. Diese Veranstaltungen waren sehr gut besucht. Auch Anna und ihre Schwester Emma lernte dort,

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