Unterwegs geboren. Christa Enchelmaier
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Vorsichtig, ja, fast zaghaft kamen die ersten über den Landungssteg ans Ufer. Alle hatten eine sichtbar um den Hals gehängte Erkennungsmarke – ihr Pass für Deutschland. Die Mütter hatten ihr Jüngstes in buntgestreifte Tragetücher an den Leib gewickelt. In ihren Händen trugen sie übervolle, große Basttaschen. Die vielen Kinder drängten sich eng an sie, jedes von ihnen, selbst die Kleinen, schleppten ein Bündel. Am großen Anlegeplatz standen dann die einzelnen Familien dicht beisammen. Kinder wurden beaufsichtigt und Körbe wurden gezählt.
Das Lager Prahowo, wo zuerst meine Mutter und später dann auch mein Vater Zwischenstation machten, hatte eine Flächenausdehnung von 5 Hektar. 34 Zelte, dazu die notwendigen Verwaltungs- und Lagerbaracken, Funkturm, Küchenhallen und Waschräume standen dort bereit. Eine Bahnrampe wurde zur Abwicklung für den Transport der Umsiedler und ihres Gepäcks errichtet.
Viele alte Männer hatten hohe Pelzmützen und einen bis zum Boden reichenden zottigen Schafspelz an. Die Füße steckten in hohen Stiefeln. Sanitäter und Rotkreuzschwestern bemühten sich um die Alten und Gebrechlichen. Mit aufmunternden Worten wurden sie in die bereitstehenden Krankenwagen gehoben und ins Lager gefahren. Hinter den abfahrenden Sanitätsfahrzeugen stellten sich die Ankommenden in Reihen auf, und langsam bewegte sich dieser Zug dem Lager zu.
Viele deutsche Fahnen wehten auf hohen Masten, so fühlten sie sich geschützt und fast schon in Deutschland. Die Alten fragten immer wieder: »Sen mer scho in Deitschland?«
Im großen Lagerzelt ging alles schnell und reibungslos weiter. Der Zeltaufseher und seine Helferinnen wiesen ihnen die auf dem Boden liegenden Strohsäcke zu, immer familienweise eng einer neben dem anderen. Auf dem langen Tisch in der Mitte des Zeltes standen Tee, Milch und Brot zur Stärkung bereit.
Als Erstes wurden die müden Kinder für die Nacht versorgt. Dicht aneinander geschmiegt auf den Strohsäcken und unter warmen Decken schliefen sie schnell ein.
Unter diesen Ankommenden war auch meine Mutter. Sie war bestimmt erschöpft von der langen Reise. Ihr Kind wollte sie sicher nicht in diesem Lager gebären. Sie hoffte, dass es in Deutschland auf die Welt käme. Erzählt hat sie mir sehr wenig von diesem Lager. Ich habe nur an ihrer Reaktion gemerkt, dass es ihr dort nicht gut ging. Eine dumpfe Vorahnung all der kommenden belastenden Ereignisse hatte sie von Anfang an bedrückt.
Sie besaß die Fähigkeit, viele Dinge vorauszuahnen; auf ihren siebten Sinn konnte sie sich immer verlassen.
Nun machte sie sich große Sorgen. ›Hoffentlich lassen die Russen die Männer ausreisen!‹, bat sie in Gedanken und fragte sich: ›Kommt die Familie wieder zusammen?‹, und auch: ›Nehmen die Russen dem Robert die Nähmaschine weg?‹ Es war schließlich ihre geliebte Singer-Nähmaschine, extra aus Deutschland importiert. Zu Hause in Gnadental hatte sie geholfen, sie gut zu verpacken, sodass der weite Transport ihr nicht schaden würde.
Und sie, so denke ich mir, dachte sicher auch oft an die mit großem Geschick gefertigte Aussteuer, an all die gestickten Decken, die Babyausstattung, von der sie nur einen kleinen Teil mitnehmen konnte. Vom Schreiner nach eigenen Wünschen gefertigte Möbel in der guten Stube, im Schlafzimmer und in der Küche, der neu fertig gestellte Pferdestall im Hof.
Knapp zwei Jahre war sie verheiratet und seit etwa einem Jahr auf dem eigenen Hof. Ihr Schwiegervater hatte sich sehr darum bemüht, seinem ältesten Sohn eine Hofstelle zu besorgen, was nach den rumänischen Bestimmungen nicht einfach war. Ein kinderloses altes Ehepaar in der Nachbarschaft wollte aufs Altenteil gehen und suchte einen tüchtigen Bauern. So kam es, dass sie den Hof übernehmen konnten, allerdings mit der Verpflichtung, das in die Jahre gekommene Paar zu versorgen. Unter rumänischer Verwaltung war es ein schwieriges Unterfangen, wenn ein Jungbauer einen eigenen Hof bewirtschaften wollte. Land durfte er nicht kaufen, das war verboten. Land von einem anderen Bauern pachten und auf die Hälfte säen, das heißt die Ernte wurde hälftig geteilt, oder Land erben waren die Alternativen. Sie hatte 10 Hektar gutes Ackerland, zwei Milchkühe und einige Schafe und Hühner mit in die Ehe gebracht. Ihrem Robert wurden weitere fünf Hektar Land überschrieben. 15 Hektar säte er zur Hälfte … Es war alles noch im Aufbau und am Beginn. Dann war da noch das Land seines Vaters, auf dem er auch mithalf. Ohne Hilfskräfte hätte das keiner geschafft, er auch nicht.
Über die Ausstattung meiner Mutter weiß ich kaum etwas. Ob sie auch Basttaschen dabeihatte wie die meisten Frauen oder handgewebte bunte Taschen oder ein Holzköfferchen? Das Tragetuch war jedenfalls dabei, in dem trug sie mich später. Was hatte sie alles mitgenommen? Das Packen war ihr sicher schwer gefallen, denn so eine lange Reise hatte sie noch nie gemacht. Ein Besuch mit der Kutsche bei ihren beiden älteren Brüdern Immanuel und Reinhold, die in Annowka etwa 50 Kilometer entfernt gesiedelt hatten, war bis dahin ihr größter Ausflug gewesen. Mit dem Zug oder gar mit einem Schiff war sie noch nie verreist.
Ob sie damals auch nach Deutschland wollte, habe ich sie mal gefragt. Alle in ihrem Dorf, hatte sie geantwortet, hatten sich für die Umsiedlung gemeldet. Alle! »Wir waren ein Dorf, wie eine Familie, wir wollten alle zusammen bleiben. Auch in der neuen Heimat. Wenn wir geblieben wären, was hätten die Russen mit uns gemacht? Mit unseren Kindern? Wir wollten Deutsche bleiben. Wir wollten freie Menschen bleiben!«
Sie war sich sicher, dass es die richtige Entscheidung war, die sie vor einer noch dunkleren Zukunft bewahrt hatte.
Tief beeindruckt waren die Ankommenden, als sie erfuhren, dass die gesamte Arbeit im Lager von den Volksdeutschen aus Jugoslawien geleistet wurde. Freiwillig und unentgeltlich, mit einer ganz selbstverständlichen Hilfsbereitschaft. Es war für sie ein ›Ehrendienst‹! Sie leisteten ihn wochenlang, obwohl die meisten von ihnen Bauern waren, eigene Wirtschaften mit großen Feldern und Weingärten hatten. Dort wurde während der Erntezeit jede zupackende Hand gebraucht.
Und die Umsiedler konnten kaum fassen, dass die Verpflegung im Lager, die wohlschmeckenden Mahlzeiten, die da so reichlich angeboten wurden, Spenden der Banater Schwaben waren. Die Mädchen in ihren schönen Trachten nähten Kleider und Wäsche für sie und waren im Lager bei der Betreuung und Verpflegung sehr behilflich.
Es war für sie alle ein großes Bedürfnis, den deutschen Brüdern und Schwestern in ihren schweren Stunden beizustehen. Sogar eine Lagerkapelle hatten sie organisiert, die beim Eintreffen eines Dampfers flotte Märsche spielte. Am Abend spielten die Mädchen der Banater Schwaben Theater, sangen oder tanzten in den Zelten, um die Umsiedler zu erfreuen.
Für die enteigneten Bessarabien-Deutschen war es eine unsagbare Wohltat in dieser stürmischen Zeit. Sie konnten für einige Stunden ihre großen Sorgen wegen der ungewissen Zukunft vergessen. Und ihre Augen leuchteten, denn dieses Verhalten war ihnen etwas Vertrautes. Auch in ihrer gesamten Volksgruppe hatten sie seit eh und je nach dem alten Kolonistenspruch gelebt: »Einer für alle und alle für einen.«
Einige hatten Fotos ihrer Wirtschaft und des Dorfes mitgenommen. Eine unschätzbare Kostbarkeit. Sie wurden jetzt den neuen Freunden gezeigt. »Das war unsere Kirch, das die Schul und das unser Haus …«, hieß es dann.
Es waren keine verzagten, verzweifelten und klagenden, sondern gläubige und hoffende Menschen. Sie legten ihr Schicksal in Gottes Hand, mit seiner Hilfe würde es einen neuen Anfang geben, trösteten sie sich.
Besonders die Alten saßen mit sorgenvollen Gesichtern beieinander. Auch wenn sie sicher waren, dass die Jungen es schon schaffen würden. Sie würden sich umstellen und so manches dazulernen können. Mit ganzer Kraft und zähem Willen würden sie die neuen Aufgaben bewältigen können. Doch es beschäftigte sie sehr, was aus ihren verlassenen Höfen und den Dörfern werden würde. Keiner wusste, was man mit ihren gepflegten Wirtschaften und den großen, schönen Dörfern vorhatte. Wer würde