Hannover sehen und sterben. Thorsten Sueße

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Hannover sehen und sterben - Thorsten Sueße

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Wut, hatte dabei Kontakt zu Menschen, die der brave Paul nie gewagt hätte anzusprechen. Da gab es diesen Szymon, einen Kerl Mitte zwanzig, der sich oft im Rotlichtviertel von Hannover rumtrieb. „Gib mir Geld, ich besorg dir alles“, war sein Spruch. – „Auch eine Pistole mit Schalldämpfer?“, wollte Paul damals wissen. – „Hast du ein Wunschmodell?“, war Szymons Antwort.

      Zu seinem achtzehnten Geburtstag hatte Paul von seinem Vater eine größere Summe Geld erhalten. Davon hatte Paul 1200 Euro abgehoben. Und dann war genau diese Summe weg, spurlos verschwunden. Sein dunkles Ich musste das Geld ausgegeben haben. Und für was? Irgendwann war Paul der Gedanke gekommen, dass Szymon ihm dafür eine Selbstladepistole mit Schalldämpfer und Munition beschafft hatte. Das Ding lag jetzt in einem geheimen Gartenversteck, das nur Pauls anderes Ich kannte. Für den braven Paul blieb ein Kribbeln, selbst wenn er keinen direkten Zugriff auf die Pistole hatte. Szymon war inzwischen wie vom Erdboden verschluckt. Oder hatte es den Typen nie gegeben? Da existierten Bilder, wie jemand in einer leeren Fabrikhalle mit der Pistole auf Bierdosen schoss.

      Damals lief im Fernsehen ein Actionfilm mit genau dieser Szene. Hatte er nur geträumt, selbst in die gleiche Situation geraten zu sein? Im Internet hatte er sich damals exakt darüber informiert, was eine Waffe kostete und wie man an sie herankam. Er fand sich mehrfach im Rotlichtviertel wieder, ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen war. Verschiedene Typen hatten ihn angequatscht, ob sie was für ihn tun könnten. Die Atmosphäre glich der in seinem Roman. Gaylords Kampf gegen die Herrschenden.

      Sein Magen knurrte. Paul verspürte Hunger, hatte den ganzen Vormittag weder gegessen noch getrunken. Er sah auf den Monitor, geöffnet war die Website der Firma Heckler & Koch, dem bedeutendsten deutschen Hersteller von Handfeuerwaffen, zu dessen Sortiment auch Pistolen gehörten. Die Erinnerung, dass er diese Seite aufgerufen hatte, war komplett weg. Im Verlauf des Internet-Browsers konnte er feststellen, dass er sich zuvor über verschiedene Tötungsarten informiert hatte. Auch daran hatte er keine Erinnerung.

      Wem seine Recherche gegolten hatte, stand außer Frage.

      Der Druck macht mich fertig!

      Paul aß und trank eine Kleinigkeit, betrat anschließend den Bungalow-Teil seiner Eltern. Ramona war inzwischen wieder zu Hause. Von ihrer Rückkehr hatte er überhaupt nichts mitbekommen. Sie war mit Bodo in dem Teil des Gartens, der demnächst von Ammoneit umgestaltet wurde.

      Solange sie da draußen sind, ist die Gelegenheit günstig.

      Paul wusste, wo sich die ausgedruckte Liste mit allen bekannten Kontaktdaten der ehemaligen Schulkameraden seines Vaters befand. Schnell fotografierte er die Liste mit seinem Smartphone.

      Ich muss zu seinem Haus. Dann kann ich ihn zur Rede stellen, ihm klarmachen, dass er zukünftig die Finger von Mama lässt.

      Paul zögerte. Stellte seinen Plan wieder infrage.

      Das verschlechtert nur die Situation.

      Er wog ab, was passieren könnte.

      Was erwarte ich? Dass er sagt: ‚Ja, ich habe mit deiner Mutter geschlafen, tut mir leid, ich beende sofort die Beziehung und sag auch deinem Vater nichts.‘ Wohl kaum.

      Er biss die Zähne zusammen.

      Philipp wird alles abstreiten. Und für mich und die Familie ist es beschämend … wirklich beschämend, wenn ich ihm gegenüber einräume, dass ich Mama zutraue, dass sie sich auf ihn einlässt. Am Ende erfährt nur Papa auf irgendeine Weise, dass ich den Kerl bedroht habe. Und wird dadurch erst auf das Ganze aufmerksam.

      Er verwarf den Plan, sich den Schriftsteller persönlich vorzuknöpfen.

      Trotzdem würde er dorthin fahren.

      Mein Fluch wirkt viel stärker, wenn ich ganz nah dran bin.

      Paul stieg in seinen Wagen und fuhr direkt zu der Adresse, die er sich eben besorgt hatte.

      Kapitel 17

      9 Tage vor der Ermordung von P. R.

      Philipp Rathing wollte die Gunst der Stunde nutzen.

      Der aufgefrischte persönliche Kontakt zu Christian Carben hatte Philipp auf eine Idee gebracht. Das Manuskript für seinen neuen Roman, der sich um das Thema Flüchtlingsfamilien drehte und in einem halben Jahr im Buchhandel erscheinen sollte, war gerade fertiggestellt. Christian hatte mit dem Thema auf zweierlei Weise zu tun – als Koordinator im Jugendamt sowie Lokalpolitiker. Philipp wollte zu einigen Aspekten Christians Meinung hören, um sich Anregungen zu holen für das am Ende des Buches geplante Nachwort.

      Er rief Christian nach Feierabend zu Hause an. Das Telefonat verlief zunächst flüssig und unproblematisch. Der Schriftsteller hatte das Gefühl, dass es Christian gefiel, ein Statement zu „seinen“ Themen abzugeben: Belastungen auf der Flucht traumatisierter Kinder, aber auch Probleme deutscher Familien mit Flüchtlings­familien.

      Zunehmend verfiel Philipp in einen vertrauten Plauder­ton, überlegte im Vorfeld nicht mehr jeden einzelnen Satz.

      Zum Thema Belastungen in Familien rutschte ihm plötzlich heraus: „Ramona und du haben ja wohl früher auch einiges zusammen erlebt, was sie bis heute be­lastet.“

      Von einem Augenblick zum andern kippte die Stimmung.

      Christian wirkte in Alarmbereitschaft versetzt. Mit kühler Stimme fragte er: „Was meinst du damit?“

      Philipp war völlig überrascht, hatte auf seine Bemerkung eine ganz andere Reaktion erwartet: „Eigentlich nichts Konkretes. Und nicht böse gemeint. Ramona hatte nur so eine Andeutung gemacht.“

      Mein letzter Satz war schon wieder Scheiße!

      „… als ich sie am Freitag zu Hause in Isernhagen-Süd besucht habe“, ergänzte Philipp. Christian durfte auf keinen Fall erfahren, dass Philipp die Äußerung von der betrunkenen Ramona aufgeschnappt hatte, nachdem sie gerade in Mardorf miteinander geschlafen hatten. „Also nichts für ungut. Vielleicht hab ich da was falsch verstanden.“

      Christian ließ es dabei bewenden, aber die anfänglich lockere Atmosphäre des Telefonats stellte sich nicht wieder ein.

      Kapitel 18

      8 Tage vor der Ermordung von P. R.

      „Ich muss dringend persönlich mit dir sprechen. Noch heute!“, hatte Christian zu ihr am Telefon gesagt. Er hatte sie vormittags in ihrer Kanzlei angerufen, dabei angedeutet, dass es um eine „wichtige Familienangelegenheit“ ging. Am Nachmittag wollten sie sich bei ihr zu Hause treffen. Das Umfeld seiner dienstlichen Termine am Vormittag ließ es offenbar nicht zu, am Telefon konkreter zu werden. Vermutlich sollten seine Frau und seine Töchter ebenfalls nichts von seinem Gespräch mit Ramona mitbekommen.

      Christian war äußerst angespannt, als er den Bungalow betrat. Bodo und Paul waren um diese Zeit noch nicht zu Hause.

      „Was ist eigentlich los?“, fragte Ramona ängstlich und bat ihren Bruder ins Wohnzimmer.

      Bevor sie sich setzen konnten, stieß er hervor: „Wie viel hast du ihm erzählt?!“

      „Wem?“

      „Philipp.“

      „Gar nichts. Kein Wort.“ Ramona war vor ihrem Bruder stehen geblieben und sah ihn ungläubig

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