Hannover sehen und sterben. Thorsten Sueße
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Читать онлайн книгу Hannover sehen und sterben - Thorsten Sueße страница 12
Paul stand im Essbereich und blickte zu seiner Mutter und den vier Männern, die heute Abend zusammengekommen waren, um eine fröhliche Jubiläumsfeier zu organisieren.
Was die hier anstoßen, wird nicht in einer fröhlichen Feier enden.
Er merkte, wie sich seine Wahrnehmung mehrfach veränderte. Er sah und hörte jede Kleinigkeit. Wie in Ultra-HD und Dolby Digital. Dann veränderte sich die Größe der Menschen im Raum, sie schrumpften und waren kaum zu verstehen. Die Stimmen wurden dumpf und leise. Der Film, den er sah, wurde schwarz-weiß und fing an zu ruckeln. Ein bleiernes Gefühl in den Beinen, er musste sich kurz an der Tischkante abstützen.
Paul tauchte in eine Welt ein, von der er sich wünschte, dass keine Gefahr von ihr ausging. Aber sein Wunsch blieb unerfüllt. Philipp wurde zunehmend größer. In Zeitlupe konnte Paul studieren, wie der Schmierfink seine Nasenspitze rieb und dabei Ramona angaffte. Die Botschaft war klar.
Irgendwann schaltete sich das Programm ab.
Paul erwachte in seinem Zimmer. Er saß vorm schwarzen Monitor seines PCs und erinnerte sich nicht, wie er vom Essbereich seiner Eltern hierhergekommen war.
Als er durch die Verbindungstür den Flur seiner Eltern betrat, sah er, wie sich seine Eltern gerade von Philipp verabschiedeten. Bodo machte hinter dem Schriftsteller die Tür zu. Ramona hatte Paul im Flur bemerkt und strahlte ihn an: „Philipp will sich deinen ersten Mystery-Roman durchlesen, um dir wertvolle Hinweise zu geben. Dafür hab ich ihm meinen Kindle geliehen.“
Paul erschrak. Es entwickelte sich wie befürchtet. Philipp hatte Ramona eine Gefälligkeit angeboten, um sie dankbar zu stimmen. Er benutzte Pauls Geschichte, um sich an seine Mutter heranzumachen. Und wie ihr Gesichtsausdruck zeigte, fuhr sie voll darauf ab.
Es wurde ernst. Paul musste um jeden Preis die Bedrohung von der Familie abwenden.
Kapitel 10
12 Tage vor der Ermordung von P. R.
Heute war Freitag, den 3. März. Meteorologisch gesehen hatten wir bereits Frühling. Na ja, nach Frühling fühlte sich bei mir nichts an. Vor drei Monaten war Anna bei mir ausgezogen – und dabei war es geblieben.
Gestern hatte ich meine Ex-Frau Ulrike angerufen. Sie war inzwischen in ihre Geburtsstadt Frankfurt umgezogen und arbeitete dort in einer Filiale des Pharmakonzerns, für den sie schon in Hannover tätig gewesen war. Ihre Villa hier in Waldhausen hatte sie verkauft. Wegen der zahlreichen belastenden Erinnerungen, die sie damit verband. Ulrike und ich hatten am Telefon nett geplaudert. Wir kamen gut miteinander aus. Aber unsere gemeinsame Zeit war endgültig vorbei. Der Verkauf der Villa, in der wir viele schöne gemeinsame Jahre mit unserer Tochter Katharina verbracht hatten, machte das noch einmal deutlich. Am Telefon sprachen wir über Katharina, die momentan in Lüneburg Sozialpädagogik studierte. Unsere 24-jährige Tochter war schon ein Lichtblick, aber selten in Hannover.
Das Leben ging weiter, wie es so schön heißt. Ich traf mich mit Freunden, ging zu Konzerten und war letzte Woche auf einer Ü40-Party im Capitol in Linden. Trotzdem schleifte meine Stimmung zuletzt meistens über den Boden. Heute war es ein wenig anders. Ich hatte es geschafft, Anna zu überreden, dass wir uns im Café Konrad in der Nähe der Marktkirche trafen.
Meine psychiatrische Notfallbereitschaft war zu Ende, und ich machte heute früher als sonst Feierabend. Um 15:30 Uhr hatten wir uns verabredet. Mein Auto ließ ich im Parkhaus meiner Dienststelle im Timon Carré, ich würde es später dort abholen. Mit der U-Bahn fuhr ich in die Innenstadt Richtung Kröpcke. Auf der Sitzreihe mir gegenüber saß ein junges Paar, das nicht an seinen Smartphones spielte (wie der Rest der Fahrgäste), sondern sich umarmte und verliebt küsste.
Will ich das jetzt sehen? Eigentlich nicht.
Ich guckte mir lieber die Reihe der Smartphone-Nutzer an.
In einem Fachwerkhaus, mitten in der Fußgängerzone der Altstadt, befand sich das Café Konrad.
Anna Sonnenberg war Englisch- und Französischlehrerin am selben Gymnasium, an dem ich vor fast dreißig Jahren Abitur gemacht hatte. Ihre Leidenschaft galt der Plansprache Esperanto, zu der sie eine AG an der Schule anbot. Ich hatte mit ihrer Unterstützung ebenfalls Esperanto gelernt. Wenn wir im Alltag unsere Verbundenheit ausdrücken wollten, unterhielten wir uns in dieser Sprache.
Schon von Weitem sah ich eine Frau mit langen blonden Haaren, die in der Fußgängerzone aus entgegengesetzter Richtung auf den Eingang des Cafés zusteuerte. Ich freute mich riesig, sie zu sehen. Lächelnd kam sie auf mich zu, und es war selbstverständlich, dass wir uns zur Begrüßung in den Arm nahmen. Ich drückte sie an mich, vielleicht etwas fester und enger, als für unser derzeitiges Verhältnis angemessen war.
Auf Esperanto sagte ich leise, dass ich mich sehr freute, dass sie gekommen war: „Mi tre ĝojas, ke vi venis.“
„Schön dich zu sehen, Mark“, antwortete sie auf Deutsch.
„Geht mir genauso. Wie immer.“
Wir standen voreinander in der Fußgängerzone und sahen uns an.
Bereits Annas nächste Frage brachte mein innerliches Dilemma auf den Punkt: „Und wie geht’s dir?“
„Möchtest du eine kurze oder eine ehrliche Antwort?“, fragte ich mit verkniffenem Lächeln zurück.
„Ehrlich wär schon gut“, sagte sie rundheraus und blickte mir offen ins Gesicht.
„Okay, lass uns reingehen.“
Wir gingen in den ersten Stock des Cafés und hatten Glück, dass gerade in diesem Augenblick ein Fensterplatz frei wurde. Zum Cappuccino bestellte sich jeder von uns ein Stück Kuchen.
Ich redete nicht herum, sondern erzählte Anna ganz offen, dass mir unsere Trennung sehr zu schaffen machte und ich sie jeden Tag vermissen würde. Wir saßen uns gegenüber und sie ergriff meine linke Hand mit ihrer rechten. Für einen kurzen Moment sah sie mich nur an und sagte nichts. Schließlich meinte sie: „Es tut mir auch sehr weh … um uns. Aber wir haben lange darüber gesprochen. Und das ist das Ergebnis.“
Anna hatte mich verlassen, weil sie sich ein Kind von mir gewünscht hatte, was ich mir als 48-jähriger Vater einer bereits erwachsenen Tochter nicht mehr vorstellen konnte. Sie war zehn Jahre jünger als ich und hatte vor Augen, dass ihr nur noch eine begrenzte Zeit zur Verfügung stand, um Mutter zu werden. Und dafür einen geeigneten Partner zu finden. Bereits ihre Ehe mit Carsten war an Annas unerfülltem Kinderwunsch gescheitert.
„Für ein Baby fühle ich mich einfach zu alt“, wiederholte ich mein Argument, das Anna schon in- und auswendig kannte. „Bei der Einschulung halten mich die anderen Eltern für den Opa.“
„Die Sache mit deinem Alter sehe ich anders. Die Zeiten haben sich geändert.“ Anna grinste. „Denk mal an Mick Jagger. Der ist mit dreiundsiebzig Vater geworden.“
Anna nahm unser brisantes Thema mit einem gewissen Humor. Ich versuchte entsprechend zu parieren: „Mit diesem Rolling-Stones-Beispiel kannst du bei mir als Beatles-Fan nicht landen.“
„Paul McCartney hat auch noch mit einundsechzig eine Tochter bekommen.“
„Ja, von Heather Mills. Und was aus der Ehe geworden ist, hat doch die ganze Welt mitbekommen.“