Hannover sehen und sterben. Thorsten Sueße

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Hannover sehen und sterben - Thorsten Sueße

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Tage vor der Ermordung von P. R.

      Paul war letzten Monat zwanzig geworden. Ein runder Geburtstag, der ihn in eine neue Lebensphase führen sollte. Aber an seiner Lebenssituation und der seiner Familie hatte sich nichts Wesentliches geändert. Nach außen stellte seine Familie etwas Besonderes dar, insbesondere seine Eltern und Noah, sein vier Jahre älterer Bruder. Hinter den Kulissen hatte jeder seine Eigenheiten, die Paul an manchen Tagen zu schaffen machten.

      Sein Vater Bodo Stern war ein bekannter Unternehmer, dem eine niedersachsenweite Spielhallen-Kette mit Namen „Glücks-Stern“ gehörte. Privat sammelte er Kinderspielzeug und Modellautos, konnte in seiner (wenigen) Freizeit komplett in die Welt seiner Modell­eisenbahn eintauchen.

      Ramona Stern, Pauls Mutter, arbeitete Teilzeit als Rechtsanwältin in einer angesehenen hannoverschen Anwaltskanzlei. Seit Jahren hatte sie eine Art „Handy-­Phobie“. Sie besaß zwar ein Mobiltelefon, trug es jedoch meistens nur ausgeschaltet mit sich herum. Lediglich im Notfall, zu bestimmten dienstlichen Anlässen oder wenn sie jemanden konkret anrufen wollte, schaltete sie es ein. Ramona lehnte es konsequent ab, immer und überall erreichbar zu sein. Und ihre Umgebung hatte diese konsequente Haltung hinnehmen müssen, was das Leben von Pauls Mutter bis zu einem gewissen Grad entschleunigte.

      Noah Stern studierte inzwischen in Göttingen im achten Semester Medizin. Er war ein Chamäleon, das sich stets perfekt den Anforderungen seiner Umgebung anpasste. Besonders seinem Vater hatte er es stets recht machen können, was Paul nie richtig gelungen war.

      Paul sah sich selbst als das am weitesten außenstehende Familienmitglied. Er machte verrückte Sachen, an die er sich später nicht erinnern konnte. Ein Ventil, damit umzugehen, waren seine Mystery-Geschichten. Er überlegte, demnächst an einer weiteren Story zu schreiben, seiner dritten.

      In der Medizinischen Hochschule Hannover absolvierte er ein Freiwilliges Wissenschaftliches Jahr. Dort waren die dissoziativen Zustände bisher nicht aufgetreten. Insofern wussten die Mitarbeiter in der MHH nichts von seinen psychischen Problemen.

      Harmonie in der Familie, das hatte für Paul den größten Wert. Und zwar nicht nur für ihn. Paul wusste, dass Harmonie für seine Eltern und Noah den gleichen Stellenwert hatte.

      Seine Mutter hatte öfters für ihn gelogen, wenn Paul als Junge etwas angestellt hatte, damit sein Vater nichts davon erfuhr und heftiger Streit ausblieb. Paul wiederum hatte Geheimnisse für seine Mutter bewahrt, um die harmonische Beziehung seiner Eltern nicht zu gefährden.

      Seit fünfzehn Jahren lebte er mit seinen Eltern und seinem Bruder in einem großzügigen Walmdachbungalow mit Einliegerwohnung im hannoverschen Stadtteil Isernhagen-Süd. Wobei sich die Zwei-­Zimmer-Einliegerwohnung in einem separaten Teil des Bungalows befand, der vor zehn Jahren neu angebaut worden war. Durch eine Verbindungstür konnte man von einem Teil des Bungalows in den anderen gelangen, dabei verfügte jeder Gebäudeteil über einen eigenen Eingang. In der Einliegerwohnung hatte Oma Ilse, Vaters Mutter, gewohnt. Sie war von ihrem Mann getrennt und litt zunehmend an einer Sehbehinderung. Vor zwei Jahren musste sie wegen einer schweren Demenzerkrankung in ein Pflegeheim umziehen. Danach bekamen Paul und Noah die Zimmer in der Einliegerwohnung, wobei Noah nur noch höchst selten in Hannover war und die meiste Zeit in Göttingen verbrachte, weil er auch außerhalb der Lehrveranstaltungen in einem Göttinger Krankenhaus arbeitete. In Noahs altem Kinderzimmer hatte Vater jetzt dauerhaft seine Modelleisenbahn aufgebaut. In Pauls Kinderzimmer standen Mutters Fitnessgeräte, wie Crosstrainer und Laufband.

      Der heutige Sonntag war ein besonderer Tag. Bodo Stern hatte Geburtstag, seinen neunundvierzigsten. Am Nachmittag würde im Haus ein kleiner Empfang für einige wichtige Geschäftspartner, Freunde und Bekannte stattfinden, bei dem sich ein Catering-Service um die Bewirtung kümmerte.

      Es war kurz nach acht Uhr morgens. Paul spürte, wie sich das Kribbeln auf seinen ganzen Körper ausdehnte. In seinem Zimmer ging er zum wiederholten Mal von einer Seite zur anderen. Es war so wichtig, dass seinem Vater das Geschenk gefiel. In der Vergangenheit hatte Paul mit seinen Geschenken ein paarmal danebengelegen.

      Er muss sich freuen. Diesmal hab ich mir mehr Mühe gegeben.

      Übers Internet hatte er ein altes Modellauto der Fima Corgi Toys gekauft. In einem gut erhaltenen Zustand, in dem dieses Modellauto nur noch selten zu bekommen war. Und sogar mit Originalverpackung, die für Sammler so wichtig war.

      Papa soll einen schönen Tag verbringen, mit uns, mit mir.

      Das gemeinsame Geburtstagsfrühstück mit der Familie im Esszimmerbereich war in knapp zwei Stunden. Pauls Aufgabe bestand darin, die vorbestellten Brötchen vom Bäcker zu holen. Ramona würde den Tisch feierlich decken – und sich quasi um den Rest kümmern. Noah war noch nicht da, er kam mit dem Auto aus Göttingen und würde rechtzeitig am Frühstückstisch sitzen.

      Die Übergabe der Geschenke war gegen zehn. Die Spannung war für Paul kaum zu ertragen.

      Ich muss eine Spontanprüfung machen, damit er sich über mein Geschenk freut.

      Bei wichtigen Vorhaben im Alltag unterzog sich Paul häufig selbst auferlegten Prüfungen. Sein Psychotherapeut hatte sein Verhalten magisches Denken genannt. Das Ganze funktionierte so, dass Paul festgelegte kleine Handlungen ausführte oder sich gedanklich Aufgaben stellte, die es jeweils erfolgreich zu bewältigen galt. Wenn ihm das gelang, erhöhte das deutlich die Chancen, dass sein geplantes Vorhaben klappte.

      Er nahm einen Tischtennisschläger und den dazugehörigen Ball in die Hand. Die Aufgabe war klar. Er musste den Ball wechselseitig mit Vor- und Rückhand nach oben in die Luft befördern. Und das zwanzig Mal, ohne dass der Ball einmal den Boden berühren durfte.

      Los geht’s!

      Früher hatte er oft mit seiner Mutter Tischtennis gespielt, aber das war schon längere Zeit her. Die Spontan­prüfungen durften nicht zu einfach sein, um Wirkungskraft zu haben.

      … fünfzehn, sechzehn, siebzehn … ja, es klappt!

      Doch der Hochmut, vor dem Erfolg zu jubeln, brach ihm das Genick. Beim achtzehnten Mal gab er dem Tischtennisball mit der Rückhand zu viel Schwung, sodass er ihn mit der Vorhand nicht mehr erwischen konnte. Der Ball fiel auf den Boden. Aus!

      Noch eine letzte Chance. Sonst hab ich’s wieder verkackt.

      Jetzt hatte er nichts mehr zu verlieren. Bei besonders wichtigen Vorhaben war es möglich, eine zweite Chance zu erhalten. Er durfte sich der gleichen Aufgabe ein weiteres Mal stellen. Absolvierte er den zweiten Durchgang mit Erfolg, war der erste Durchgang neutralisiert. In diesem Fall trat die Regel in Kraft, dass Paul noch einen dritten (alles entscheidenden) Versuch zur Verfügung hatte. Danach war keine Wiederholung zur Durchsetzung eines aktuellen Anliegens erlaubt. Das Gesetz der Spontanprüfungen hatte sich Paul nach und nach selbst erarbeitet.

      Er konzentrierte sich.

      Diesmal kein vorzeitiger Jubel.

      Erneut begann er mit der Übung, deren Ausgang für ihn große Bedeutung hatte.

      … neunzehn, zwanzig!

      Er atmete erleichtert durch.

      Der sichere Misserfolg war damit neutralisiert. Paul war wieder auf dem alten Stand wie vor der ersten Spontanprüfung.

      Er entschied sich dafür, auf den dritten Durchgang zu verzichten.

      *

      Der Ablauf des Geburtstagsfrühstücks folgte einem

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