Hannover sehen und sterben. Thorsten Sueße
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Читать онлайн книгу Hannover sehen und sterben - Thorsten Sueße страница 4
Sein Gegenüber kam tatsächlich zum Stehen. Die Mundwinkel zuckten, beide Arme vollführten ruckartige Bewegungen, bevor er laut verkündete: „Ich bin gekommen, um mit dir, du verkappter Schwulenhasser, abzurechnen. Dein verdammtes Drecksbuch!“
Der steht total unter Dampf!
„Verlassen Sie bitte sofort mein Grundstück!“, entgegnete Philipp, wobei seine Stimme leicht brüchig wirkte.
Grothe stand mit zwei Schritten direkt vor dem Schriftsteller und drückte ihm die rechte flache Hand ins Gesicht. Philipp taumelte zurück. Der Biker setzte nach, schubste seinen Widersacher mit beiden Händen gegen den Brustkorb. Philipp kam ins Straucheln, konnte mit Mühe verhindern, zu Boden zu stürzen.
In seiner Verzweiflung hatte der Autor einen Geistesblitz.
„Da ist die Polizei!“, schrie er und deutete mit dem Finger hinter Grothe, der verblüfft innehielt und sich umdrehte. Aber da war niemand!
Philipp nutzte die Verwirrung und flüchtete Richtung Terrasse.
„Eh, du Arsch, dich krieg ich!“, hörte er hinter sich den Biker brüllen.
Der Schriftsteller stieß die angelehnte Terrassentür auf, rettete sich ins Wohnzimmer und verschloss sofort hinter sich die Tür. Der Angreifer erschien auf der Terrasse. Philipp fingerte sein Smartphone aus der Hosentasche und rief mit zittriger Stimme die Polizei um Hilfe.
Grothe schlug wechselseitig mit beiden Handinnenflächen gegen die Glasscheibe der Terrassentür. Dann machte er einige Trippelschritte und rieb die Hände an seinen Oberschenkeln. Er war sichtlich aufgeregt, aber noch unentschlossen, ob er die nächste Grenze überschreiten und versuchen sollte, das Glas der Tür einzuschlagen.
Philipp atmete kurz auf, als der Angreifer die Terrasse verließ und in den Garten zurückkehrte.
Zu früh gefreut!
Grothe hatte einen der größeren Ziersteine entdeckt, aufgehoben und marschierte damit auf die Terrasse zu.
Philipp rannte über den Flur zur vorderen Haustür. Hinter ihm klirrte eine Scheibe. Durch den Haupteingang flüchtete er aus seinem Haus, rannte zur Straße, rief laut um Hilfe.
Kapitel 5
Ich hatte heute mit zwei Notfalleinsätzen zu tun, die auf ihre Art ein Symbol dafür waren, dass es bei mir zurzeit nicht rund lief.
Als Erstes meldete sich das Polizeikommissariat Hannover-Misburg. In Anderten war ein vermutlich psychisch kranker Mann von der Polizei überwältigt worden, nachdem er zuvor den Schriftsteller Philipp Rathing auf dessen Grundstück körperlich angegriffen hatte. Die Polizei hatte den Mann mit aufs Kommissariat genommen.
„Es geht um einen Ralf Grothe. Der war völlig von der Rolle. Wir mussten ihn für den Transport an Händen und Füßen fesseln“, erklärte mir am Telefon der zuständige Polizeioberkommissar. „Jetzt schreit er in der Gewahrsamszelle rum … Könnten Sie bitte sofort kommen und ärztlich überprüfen, ob die akute Fremdgefährdung tatsächlich auf einer psychischen Krankheit beruht?“
Sollte das nach fachärztlicher Einschätzung der Fall sein, müsste der Mann in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden.
„Wir kennen ihn aus dem letzten Jahr … Anzeige wegen Körperverletzung“, ergänzte der Polizist. „Damals hatte der kassenärztliche Bereitschaftsdienst eine Psychose mit manischer Auslenkung diagnostiziert. Daraufhin wurde Grothe auf freiwilliger Basis ins Krankenhaus gebracht.“
„In einer halben Stunde sind wir bei Ihnen“, versprach ich.
Philipp Rathing, wie interessant, ging mir durch den Kopf. Vor neunundzwanzig Jahren, 1987, hatte ich mit ihm zusammen Abitur im Lindener Hermann-Hesse-Gymnasium gemacht. Zuletzt hatten wir uns vor gut neun Jahren gesehen, bei der 20-Jahr-Feier unseres Abi-Jahrgangs.
Kurz durchforstete ich unsere elektronische Patientendatei. Einen Ralf Grothe konnte ich nicht entdecken. Bisher also keine Berührungspunkte mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst.
Ich verständigte Saskia Ahlborn, eine erfahrene Sozialarbeiterin Ende fünfzig. Heute war sie meine Begleitung bei allen Notfalleinsätzen.
In meinem VW Golf fuhren wir über den Schnellweg in den östlichen Teil Hannovers. Ich steuerte durch den erstaunlich zäh fließenden Verkehr. Der Wagen hatte schon sehr viele Winter hinter sich gebracht, war dafür noch ganz gut in Schuss, verfügte allerdings nicht über zeitgemäße Technik wie eine Bluetooth-Freisprechanlage. Mein Smartphone, auf dem die Notrufe eingingen, hatte ich daher während der Fahrt an Saskia weitergereicht.
Ich war froh, während der Fahrt nichts mit Telefonaten zu tun zu haben. So konnte ich mich meiner Gedankenkette widmen, in der sich Berufliches und Privates vermischte: Philipp Rathing, Hermann-Hesse-Gymnasium, Anna … Der Auszug meiner langjährigen Lebenspartnerin ließ mich einfach nicht los.
Gut, dass Saskia neben mir saß und die nächsten Minuten alle Anrufer von mir fernhielt.
Denn schon klingelte es.
*
Saskia Ahlborn nahm den Anruf, weitervermittelt über die Einsatzleitstelle, entgegen: „Guten Tag, mein Name ist Ahlborn, Sozialarbeiterin der Notfallbereitschaft des Sozialpsychiatrischen Dienstes.“
Ein unsicher klingender Mann meldete sich, nannte kurz seinen Namen, teilte besorgt mit: „Peter Horand, ein Bekannter von mir, ist in letzter Zeit schlecht drauf, irgendwie mürrisch … und redet wenig. Er ist Frührentner und arbeitet nicht mehr. Heute Morgen wollt ich ihn anrufen, aber er geht nicht ans Festnetz. Und hat sein Handy ausgeschaltet.“
„Könnte es sein, dass er einkaufen ist und vergessen hat, sein Handy wieder einzuschalten?“, fragte Saskia das Naheliegendste.
„Kann sein, glaube ich aber nicht.“
„Ist bei Herrn Horand eine psychische Erkrankung bekannt? Gab es schon mal Hinweise auf Suizidalität?“
„Das weiß ich nicht. Ich bin kein Psychiater.“ Der letzte Satz klang leicht ärgerlich. „Könnten Sie mal nach meinem Bekannten sehen?“
Saskia erfragte Adresse und Telefonnummer von Peter Horand und erklärte:
„Herr Dr. Seifert und ich sind gerade auf dem Weg zu einem eiligen Notfall. Anschließend kümmern wir uns um Ihre Angelegenheit. Wohnen Sie in der Nähe von Herrn Horand und könnten dort schon mal nach dem Rechten sehen?“
„Wir wohnen in verschiedenen Stadtteilen. Ich sitz hier zu Hause und ruf von meinem Festnetzapparat an. Aber dann fahr ich da eben selbst hin.“
„Das ist ein guter Vorschlag. Bitte melden Sie sich jederzeit, wenn’s neue Erkenntnisse gibt.“
Der Anrufer beendete das Gespräch.
*
Im Polizeikommissariat Misburg wurden wir dringend erwartet. Kai Duensing, Mitte dreißig, der für den Fall Ralf Grothe zuständige Polizeioberkommissar, bat uns, ihm in ein Büro im hinteren Teil des Kommissariats zu folgen und Platz zu nehmen. Ein nüchtern eingerichteter Raum mit dem allernotwendigsten Inventar. Aktenschrank, Schreibtisch