Hannover sehen und sterben. Thorsten Sueße

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Hannover sehen und sterben - Thorsten Sueße

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reden und eine Diagnose stellen“, erklärte Duensing. „Ich als medizinischer Laie halte den Mann für völlig verrückt.“

      Zwei kräftige Polizeibeamte führten Ralf Grothe herein. Seine Hände waren auf dem Rücken mit Handschellen gefesselt. Der Grund dafür war schnell erkennbar. Sämtliche Muskeln seines Körpers schienen unter Anspannung zu stehen. Er wirkte wie eine tickende Zeitbombe, leistete jedoch im Moment keinen Widerstand. Alles an ihm war schwarz: sein Pullover, seine Lederhose, seine Stiefel. Bis auf das schüttere Haupthaar und den Bart, wo inzwischen das Grau überwog.

      „Der Herr Irrenarzt ist also auch schon eingetroffen“, gab er zur Begrüßung lautstark von sich. „Bist du überhaupt dafür qualifiziert, schwule Gehirne zu analysieren?“

      Seine Bewacher setzten ihn auf einen der Stühle, postierten sich links und rechts dahinter.

      Saskia und ich saßen dem gefesselten Mann gegenüber, den Tisch zwischen uns. Duensing hielt sich etwas abseits.

      Wir stellten uns Grothe mit Namen und Funktion vor. Ich bat ihn darum, im folgenden Gespräch beim Sie zu bleiben.

      „Die studierten Herrschaften legen Wert auf Etikette … Na, dann will ich mal zeigen, dass ich gute Manieren habe“, brummte er und ergänzte mit Blick auf Saskia: „Du … entschuldige … Sie brauchen keine Angst zu haben. An Muschis geh ich nicht ran.“

      „Ich bin nicht davon ausgegangen, dass Sie mir was antun“, antwortete Saskia ruhig. „Und bei Muschis fühle ich mich nicht angesprochen.“

      Ehe ich eine Frage stellen konnte, äußerte Grothe verärgert: „Die haben mir hier die Jacke ausgezogen. Jetzt könnt ihr gar nicht erkennen, wer ich bin … Schon mal was von den Rainbow-Bikern gehört?“

      Ich nickte. Es handelte sich um einen in der Region Hannover ansässigen Motorradclub für schwule Biker. Ich teilte ihm mein Wissen mit, wodurch ich kurzfristig bei ihm punktete.

      „Für’n Hetero gar nicht so übel.“

      Ich nutzte die Gunst des Augenblicks und fragte ihn, was er bei Philipp Rathing in Anderten gewollt habe.

      „Ich hab Rathing einen Besuch abgestattet, um ihm persönlich die Quittung für sein ekliges Geschmiere zu verpassen. Erst interviewt er mich scheinheilig, dann schreibt er diese Kacke, die mich und die Jungs lächerlich macht und alle Schwulen und Lesben zu Psychopathen abstempelt.“ Grothe redete sich in Rage, immer schneller und mit zunehmender Lautstärke. Schließlich endete er mit dem Satz: „Ich bin der Rächer des guten Rufs aller Schwulen und Lesben, habt ihr’s kapiert?!“

      Als Nächstes fragte ich ihn, bei wem er zuletzt in ambulanter psychiatrischer Behandlung gewesen sei.

      „Dr. Mielke, ganz okay der Typ. Geh ich seit paar Monaten nicht mehr hin. Die Medikamente brauch ich nicht mehr.“

      Dr. Mielke war ein niedergelassener Psychiater in Hannover. Die verordneten Psychopharmaka hatte Grothe offenbar abgesetzt.

      Von Grothe erfuhr ich noch, dass er sich letztes Jahr einige Wochen freiwillig in der Psychiatrischen Klinik in Langenhagen aufgehalten hatte. Er lebte allein in einer Mietwohnung. Aktuell war er antriebsgesteigert und enthemmt. Es war davon auszugehen, dass er innerhalb kürzester Zeit erneut bei Philipp aufkreuzen und diesen körperlich attackieren würde. Das Kriterium der weiter bestehenden akuten Fremdgefährdung war damit erfüllt.

      Diagnostisch ging ich von einer manischen Episode im Rahmen einer bipolaren affektiven Störung aus.

      „Wären Sie bereit, sich wieder in Langenhagen stationär aufnehmen zu lassen?“, fragte ich ihn.

      „Ich geh nicht wieder in die Klapse! Brauch ich nicht und will ich nicht mehr! Morgen beginne ich meinen eigenen Roman. Der handelt von bornierten Hetero-Schmierfinken!“

      „Falls Sie sich zu keiner freiwilligen Aufnahme entschließen, würde ich einen Unterbringungsbeschluss anregen“, legte ich die Karten auf den Tisch.

      Grothes Stimmung verschlechterte sich rapide.

      „Ich lass mich von dir nicht in die Klapse wegsperren!“, schimpfte er und versuchte sich aufzurichten. Die Polizisten hinter ihm drückten ihn auf den Stuhl zurück.

      Er begann, mir lautstark eine Serie von Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Für meine Entscheidung brauchte ich keine weiteren Informationen. Ich beendete das Gespräch, und der schimpfende Rainbow-­Biker wurde von den Beamten in die Gewahrsamszelle zurückgebracht.

      „Wir können jetzt aber nicht drei Stunden warten, bis ein richterlicher Unterbringungsbeschluss verfügt wird“, teilte Duensing mit. „Grothe noch drei Stunden in unserer Zelle, das hält keiner der Beteiligten aus.“

      Dieser Auffassung schloss ich mich an. Bei sehr eiligen Notfallsituationen war es rechtlich möglich, dass anstelle eines Richters ein von der Kommune autorisierter Ordnungsbeamter die Zwangseinweisung bis zum Ende des Folgetages anordnen konnte, wenn ein in der Psychiatrie erfahrener Arzt die Notwendigkeit dafür bestätigt hatte. Und genau diesen Ordnungsbeamten rief ich jetzt an.

      *

      Der Ordnungsbeamte hatte nach einem kurzen persönlichen Gespräch mit Grothe dessen sofortige Einweisung in die Langenhagener Klinik verfügt. Zwei Polizeibeamte begleiteten den immer noch gefesselten Grothe zum Ausgang des Kommissariats. Ich ging vor ihm, mehrere Schritte voraus. Saskia hatte das Gebäude schon verlassen. Vorm Eingang führte eine Treppe mit vierzehn Stufen nach unten, wo der Rettungswagen parkte, der Grothe in die Klinik transportieren sollte. Im Rahmen der Amtshilfe würde die Polizei den Krankentransport bis zur Klinik begleiten. Ich stand gerade auf der obersten Stufe, als ich am unteren Ende der Treppe einen Mann sah, den ich neun Jahre nicht mehr persönlich gesehen hatte – Philipp Rathing.

      Was will der denn hier?

      Überrascht blieb ich stehen. Dafür, dass ihn gerade zu Hause ein enthemmter Maniker überfallen hatte, sah er erstaunlich frisch aus. Unter dem offenen Mantel trug er ein Sakko. Er machte den Eindruck, als hätte er noch was vor.

      Dann passierte alles auf einmal. Ich hörte Grothe hinter mir schreien, der offenbar ebenfalls Philipp entdeckt hatte. Gleichzeitig erwischte mich ein Tritt am Gesäß, vermutlich von Grothe, der beim Anblick seines Widersachers vor Wut explodierte. Ich taumelte nach vorne, verlor das Gleichgewicht, stürzte, rollte einige Treppenstufen nach unten, bis ich endlich meinen Sturz abbremsen konnte.

      „Rathing, du Abschaum, irgendwann erwischen wir dich!“, brüllte Grothe. „Du wirst Hannover sehen und sterben!“

      Die Polizisten hatten ihn zu Fall gebracht, sodass er auf dem Boden kniete und nicht mehr um sich treten konnte.

      Ich spürte Schmerzen in der Schulter, im Rücken und an der Schläfe. Dabei hatte meine Winterjacke noch einen gewissen Schutz dargestellt. Duensing und der Ordnungsbeamte halfen mir auf die Beine. Hätte nur noch gefehlt, dass ich wieder mit dem Fuß umgeknickt wäre. Dann kam Saskia dazu.

      Ich hatte eine Schürfwunde an der rechten Schläfe und würde die nächste Zeit jede Menge blaue Flecken mit mir herumtragen.

      Nachdem Grothe endgültig im Rettungswagen verschwunden war, kam mir Philipp auf der Treppe zum Kommissariat entgegen. In den letzten Jahren hatte er sich nur geringfügig verändert. Er hatte dunkelblonde Haare mit ausgeprägten Geheimratsecken, einige Falten um die Augen und einen minimalen Bauchansatz.

      Immer

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