Hannover sehen und sterben. Thorsten Sueße

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Hannover sehen und sterben - Thorsten Sueße

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      „Hallo Mark, alter Kumpel. Tut mir total leid, dass du wegen mir eine verpasst bekommen hast“, sagte er und drückte fest meine Hand.

      „Nicht deine Schuld. Ich hab für einen Moment nicht richtig aufgepasst … Und wie geht’s dir?“

      „Der Angriff von Grothe belastet mich mehr, als man mir vielleicht ansieht.“ Sein anfängliches Lächeln verschwand und machte einem bedrückten Gesichtsausdruck Platz. „Ich bin hierhergefahren, um bei der Polizei meine Aussage von heute Morgen zu ergänzen. Im direkten persönlichen Gespräch hielt ich das für am besten.“

      Eigentlich müsste er doch heute die Nase voll haben von Polizei und enthemmten Bikern. Dass er trotzdem sogar persönlich hier gleich wieder auftaucht, kommt mir merkwürdig vor.

      Philipp hatte es eilig, und auch auf mich wartete der nächste Notfall.

      „Könnte sein, dass ich mal deinen fachlichen Sachverstand für eines meiner nächsten Bücher brauche“, sagte er mit einem Augenzwinkern. „Hättest du eine Visitenkarte für mich?“

      Ich tat ihm den Gefallen und wollte mich verabschieden, als mir unten vor der Treppe zum Kommissariat ein Mann in einer dunkelblauen Winterjacke auffiel. Auf Anhieb konnte ich ihn nicht zuordnen, aber ich kannte ihn von irgendwoher. Er guckte zu uns herauf, aber sein Interesse galt offensichtlich nicht mir, sondern Philipp.

      *

      Der Mann spürte eine Mischung aus Beklemmung und Ärger, machte sich große Sorgen um Peter Horand. Sein Gefühl sagte ihm, dass da etwas mit seinem Bekannten nicht stimmte. Als er vor der Haustür des mehrstöckigen Mietshauses stand und ein paarmal hintereinander klingelte, nahm seine Unruhe zu.

      Nichts! Peter macht nicht auf.

      Er klingelte bei Rosenhahn. Der war Rentner wie Peter und wohnte eine Etage unter ihm, gleichzeitig war er der Besitzer des Hauses. Zum Glück war Rosenhahn da und betätigte den Summer.

      Er erzählte Rosenhahn kurz von seiner Besorgnis, ging dann einen Stock weiter, in die zweite Etage. Auf Klingeln und Klopfen erfolgte keine Reaktion. Aber als er sein Ohr an die geschlossene Wohnungstür legte, meinte er etwas zu hören. Sehr leise.

      Das sind doch Stimmen?! Aber völlig monoton. Und immer das Gleiche. Was ist da los?

      Das klang nicht nach Besuch. Das klang nach Fernseher, oder einer CD, die beim Abspielen an einer Stelle festhing. Aber was war mit Peter?

      Der geht doch nicht raus, wenn drinnen der Fernseher läuft. Liegt er hilflos in der Wohnung?

      Rosenhahn hatte als Vermieter für Peters Wohnung einen Schlüssel. Für den Notfall. Das war auf jeden Fall einer.

      Er ließ Rosenhahn aufschließen. Was er dann zu sehen bekam, erschreckte ihn zutiefst. Peter hatte sich am Heizkörper im Wohnzimmer erhängt. Vorher hatte er offenbar seine Lieblingsplatte, Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band von den Beatles, aufgelegt.

      Auf der zweiten Schallplattenseite war eine Endlosrille, in welche die Beatles als Gag ein Stimmengewirr hatten pressen lassen. Peters Plattenspieler besaß keine automatische Endabschaltung. Das Stimmengewirr wurde so lange abgespielt, bis der Tonarm manuell entfernt wurde. Peter war dazu nicht mehr in der Lage gewesen.

      Rosenhahn verständigte die Polizei. Die fand einen handschriftlichen Abschiedsbrief und keine Hinweise auf Fremdeinwirkung.

      *

      Saskia und ich stiegen in mein Auto ein, das wir in der Nähe vom Polizeikommissariat Misburg abgestellt hatten. Ich hatte mir nicht mehr die Mühe gemacht herauszufinden, wer der Mann in der dunkelblauen Winterjacke war und was er womöglich von Philipp wollte. Ich musste mich um das Hilfeersuchen kümmern, von dem Saskia vorhin kurz berichtet hatte. Ein Mann mit Namen Horand war heute Morgen telefonisch nicht erreichbar gewesen.

      Gerade wollten wir das weitere Vorgehen besprechen, da klingelte mein Diensthandy.

      Ich nahm das Gespräch an, eine Polizeibeamtin meldete sich. Nach meinem Treppensturz folgte jetzt der nächste Tiefschlag. Die Polizistin teilte mit, dass sie wusste, dass die psychiatrische Notfallbereitschaft zu einem Herrn Horand im Stadtteil Sahlkamp gerufen worden war. Sie sei jetzt bei ihm vor Ort. Wir bräuchten nicht mehr zu kommen. Der Mann habe sich das Leben genommen.

      Ach, du Scheiße! Heute kommt’s ja richtig dicke!

      In der Wohnung des Toten wurden wir tatsächlich nicht mehr gebraucht. Wie meine telefonische Rücksprache mit Mockie ergab, war Peter Horand nie Patient in einer der Beratungsstellen des Sozialpsychiatrischen Dienstes gewesen.

      Schon kam der nächste Anruf.

      Kein guter Tag für mich!

      Am frühen Nachmittag trafen Saskia und ich wieder in unseren Büroräumen im Döhrener Timon Carré ein. Ich war völlig fertig, sah es aber als meine Aufgabe an, noch einmal den Bekannten von Peter Horand anzurufen. Ich wollte ihn fragen, wie er mit Horands Suizid zurechtkam und ob er Interesse an einem Gespräch mit mir hätte. Saskia beharrte darauf, sich selbst um die Angelegenheit zu kümmern. Schließlich habe nur sie mit dem Mann gesprochen, daher wolle auch sie das Telefonat mit ihm führen.

      Ich willigte ein (und war wirklich nicht unglücklich darüber, dieses Telefonat nicht führen zu müssen). Außerdem sagte ich mir, dass ich damit vermeiden wollte, dass Saskia den Eindruck bekam, ich könnte ihr das Ganze nicht zutrauen.

      Kurz vor Dienstschluss informierte sie mich darüber, dass sie den Mann telefonisch erreicht hatte. Er hätte nachvollziehbar erklärt, dass er damit klarkäme und keine weitere Unterstützung von uns benötige.

      Saskia legte eine elektronische Akte Peter Horand an und übernahm die kurze Dokumentation unserer Telefonate. Zuvor schon hatte ich erstmals Ralf Grothe bei uns aktenkundig gemacht.

      Anschließend war Feierabend, und ich fuhr nach Hause, wo leider niemand auf mich wartete.

      Kapitel 6

      Heute war Samstag, der Tag nach meinem unerfreulichen Freitagsnotdienst.

      Gleich frühmorgens machte ich mich auf den Weg zur Markthalle in der Innenstadt von Hannover. Meine Beweglichkeit war durch die schmerzhaften Prellungen, die ich gestern erlitten hatte, etwas beeinträchtigt. Trotzdem genoss ich ein Prosecco-Frühstück an einem italienischen Stand vor der breiten Fensterfront mit Blick auf den riesigen weihnachtlich geschmückten Tannenbaum neben dem Alten Rathaus, nahm bewusst das lebendige Treiben in den Gängen der Markthalle auf. Hier tobte das Leben, und ich hatte keinerlei dienstliche Verpflichtungen.

      Vom Zeitschriftenstand hatte ich mir die heutige Ausgabe der täglich erscheinenden Boulevardzeitung TAGESBLATT Hannover besorgt. Auf dem Titel prangte als Überschrift: „Bestsellerautor P. R. in seinem Haus überfallen“. Daneben war ein Foto von ihm mit Mantel und Sakko vor dem Polizeikommissariat Misburg. Ein kleines Foto zeigte verpixelt einen knienden Mann, umringt von Polizisten – Ralf Grothe, nachdem er mir einen tückischen Tritt versetzt hatte. Im Innenteil der Zeitung ging der Artikel weiter. Dort war ein Archiv­foto von Philipps Haus in Anderten zu sehen.

      Jetzt fällt mir ein, wer der Typ in Dunkelblau vor dem Kommissariat war. Kleber, ein Reporter, der fürs TAGESBLATT arbeitet.

      Ich hatte vor zwei Jahren kurz mit Kleber zu tun gehabt. Er wollte damals Informationen von mir zu einem

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