Hannover sehen und sterben. Thorsten Sueße

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Hannover sehen und sterben - Thorsten Sueße

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      Ich schleppte mich ins Badezimmer. Der Spiegel dort zeigte einen achtundvierzigjährigen Mann mit einem deprimierten Gesichtsausdruck.

      „Mark Seifert, du gefällst mir gar nicht“, sagte ich zu mir selbst.

      Schade, dass ich mich als Psychiater nicht selbst behandeln kann. Momentan hätte ich es bitter nötig.

      Ich war Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und leitete den Sozialpsychiatrischen Dienst, eine Einrichtung des öffentlichen Gesundheitsdienstes des Kommunalverbands Region Hannover. Der Sozialpsychiatrische Dienst verfügte über eine Zentrale und zwölf Beratungsstellen, ausgestattet mit insgesamt hundert Fachkräften, die sich um die ambulante Versorgung derjenigen psychisch Kranken kümmerten, die nicht oder nicht ausreichend vom kassenärztlichen System erreicht wurden.

      Nach einem mageren Schnellfrühstück machte ich mich auf den Weg zur Arbeit.

      Jeden Freitag hatte ich mich selbst zur psychiatrischen Notfallbereitschaft für das Gebiet der Landeshauptstadt eingeteilt, um den Bezug zur Praxis zu behalten.

      Kurz vor acht Uhr betrat ich die Zentrale des Sozialpsychiatrischen Dienstes in der vierten Etage des Timon Carrés, einem sechsstöckigen Gebäudekomplex, in dem sich ansonsten zahlreiche Arztpraxen befanden, mitten im hannoverschen Stadtteil Döhren.

      In meinem Vorzimmer war Sonja Mock, meine langjährige Sekretärin, gerade am Telefonieren. Mit der freien Hand gab sie mir ein Zeichen, mich ruhig zu verhalten.

      „Nein, Frau Dahlmann-Weinberger“, sagte Mockie auf ihre ruhige, aber bestimmte Art, „leider ist Herr Dr. Seifert nicht im Hause, und ich weiß auch nicht, ob er heute noch reinkommt.“

      Bei dem Namen „Dahlmann-Weinberger“ spürte ich gleich meinen flauen Magen. Es handelte sich dabei um eine Frau Ende dreißig, mit der ich in den letzten Wochen bereits mehrfach ausführlich telefoniert hatte. Unsere Gespräche drehten sich dabei im Kreis. Die Frau suchte immer wieder Beziehungen zu dem Typ Mann, mit dem sie in ihrer Jugend äußerst schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Die Reinszenierung eines alten Traumas. Dabei lehnte die Frau jegliche Gespräche mit Therapeuten der zuständigen Sozialpsychiatrischen Beratungsstelle ab. Bei Frau Ende dreißig waren meine Gedanken sofort wieder bei Anna.

      Meine Sekretärin legte den Hörer auf und lächelte mich an: „Das ist für heute erledigt.“

      „Danke, Mockie, Sie haben mich gerettet. Ein Telefonat mit Frau Dahlmann-Weinberger gleich zu Beginn des Tages hätte ich diesen Freitag nicht durchgehalten.“

      Ich ging in mein Büro und hoffte, dass Mockies erfolgreiche Abwehr dieses Telefonats ein gutes Zeichen für den weiteren Tagesverlauf sein würde. Da hatte ich mich leider gründlich geirrt.

      Kapitel 4

      Philipp Rathing unterbrach die Arbeit am Manuskript seines neuen Buches. An diesem Freitag hatte er ganz früh mit dem Schreiben begonnen.

      Der Nachfolge-Roman von „Hannover sehen und lieben“ musste unbedingt wieder ein Bestseller werden, nachdem sich sein vorletztes Buch und das davor leider nur mäßig verkauft hatten. Philipp gehörte zu den wenigen Schriftstellern, die tatsächlich von ihrem künstlerischen Schaffen recht gut leben konnten. Nebenher schrieb er journalistische Artikel für bundesweit erscheinende Magazine, lektorierte zusätzlich Bücher und Magazine, hatte früher bereits Drehbücher für eine erfolgreiche Fernsehserie verfasst. In seinem aktuellen Manuskript ging es um Flüchtlinge in Deutschland, ein Thema, mit dem er zwar in seinem eigenen Alltag wenig zu tun hatte, das er jedoch als aktuell und zugkräftig einschätzte. Er saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und überflog auf dem Monitor seines PCs die letzten Sätze, die er in die Tastatur getippt hatte. Dann blickte er über den Bildschirm hinweg durchs Fenster. Das Arbeitszimmer lag im ersten Stock seines Hauses.

      Übernachtungen von Frauen kamen in dieser Arbeitsphase nicht in Betracht. Seine Konzentration galt von morgens bis abends, manchmal sogar bis spät in die Nacht, ausschließlich dem Buch. Als seine langjährige Lebenspartnerin Melanie und deren Kinder noch hier wohnten, hatte es deswegen öfters Streit gegeben. Ihnen fehlte bisweilen das Verständnis, dass laute Musik, Geschrei oder sonstige Turbulenzen ihn bei seiner Arbeit störten. Ein offenes Ohr für Alltagsprobleme aller Art hatte er hingegen in der Findungsphase für das Thema eines neuen Romans. Seit er die Adventszeit allein in Anderten verbringen musste, verzichtete er im Haus auf jeglichen vorweihnachtlichen Schnickschnack.

      Das Haus hatte er vor achtzehn Jahren, zusammen mit seiner drei Jahre später verstorbenen Frau, gekauft. Viele persönliche Erinnerungen an diese Zeit waren mit dem Gebäude verknüpft, in welchem er, allein schon wegen des ansprechenden Gartens (seine zweite Passion neben dem Schreiben!), um jeden Preis wohnen bleiben wollte. Zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau war Melanie mit ihren beiden kleinen Kindern dort eingezogen. Aber das spielte heute alles keine Rolle.

      Am späten Nachmittag vor zwei Tagen hatte ein Mann auf einem Motorrad vor Philipps Grundstück, das in einem ruhigen Wohngebiet mit Einfamilienhäusern lag, haltgemacht. Der Mann war korpulent, trug schwarze Lederkleidung mit einer Kutte darüber, die vorne und hinten die geschwungene Regenbogenflagge zierte. Vom Fenster hatte Philipp in der einsetzenden Dunkelheit nicht alles genau erkennen können. Aber es konnte sich nur um Ralf Grothe handeln. Der Kerl hatte einen leeren Flachmann in den Garten des Schriftstellers geworfen und irgendetwas gerufen, das Philipp im Haus nur undeutlich verstehen konnte – möglicherweise „blödes Schwein“ oder so. Für die Einschaltung der Polizei reichte der Vorgang nicht aus. Grothe war ein Mitglied der Rainbow-Biker. Die hatten in den vergangenen Monaten mehrfach gegen sein Buch gewettert. Und ihm vermutlich auch die anonymen Mails mit den fiesen Beschimpfungen geschickt, deren Adresse sich nicht zurückverfolgen ließ. Im September, kurz nach Veröffentlichung von „Hannover sehen und lieben“, war Philipps Haustür von Unbekannten mit Hundekot beschmiert worden. Er konnte den Anfeindungen, über die schon mehrfach die Presse berichtet hatte, auch Positives abringen. Sie machten sein Buch für unentschlossene Käufer interessanter.

      Zum Einlegen einer Zigarettenpause entschloss er sich, in den Garten zu gehen. Er hatte sich eine Winterjacke angezogen. Es war etwa fünf Grad über null. Die Weihnachtstage würden vermutlich wieder ohne Schnee auskommen müssen. Er ging im Garten auf und ab, was meistens seine Einfälle für die nächsten Passagen des Romans beflügelte.

      Von der Straße her hörte er das Knattern eines Motorrads. Auf der Maschine hockte die korpulente Gestalt von vorgestern.

      Er ist es! Grothe! Was mache ich jetzt?

      Philipp war nicht der Typ, der sich gleich wie ein ängstliches Mäuschen verkroch. Er entschloss sich, ruhig stehen zu bleiben und mit keiner Geste zu signalisieren, dass ihm die Situation Unbehagen bereitete.

      Der Biker war ungefähr im gleichen Alter wie Philipp, also Ende vierzig. Ein ungepflegt wirkender dunkler Vollbart mit etlichem Grau ließ ihn verwegen aussehen. Er trug wieder die typische Motorradkleidung mit der Rainbow-Kutte. Und darunter sah er recht kräftig aus.

      Bei einer Prügelei zieh ich mit Sicherheit den Kürzeren! Standhaft bleiben, aber nicht provozieren.

      Grothe hatte den Schriftsteller ebenfalls ausgemacht. Er brachte sein Motorrad zum Stehen, stieg ab und stürmte mit schnellen Schritten durch das vordere Gartentor auf Philipp zu.

      Weglaufen oder Stärke zeigen?

      Philipp erstarrte auf dem Rasen und war für einen kurzen Moment entscheidungsunfähig. Die brennende Zigarette entglitt seiner Hand.

      Okay, bleibt nur Stärke vortäuschen.

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