Witterung – Lauf so schnell du kannst. Heike Ulrich

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Witterung – Lauf so schnell du kannst - Heike Ulrich

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Anwältin hatte dafür gesorgt, dass sie zunächst in ein Frauenhaus kam. Dort, wo niemand sie finden konnte. Später war sie in einer Wohngemeinschaft mit zwei anderen Frauen untergekommen. Und nun?

      Obwohl sie nicht ernsthaft damit gerechnet hatte, schmerzte es sie plötzlich, dass niemand von ihrer Familie zur Gerichtsverhandlung erschienen war, um ihr beizustehen.

      Doch sie hatte heute ihrem Peiniger direkt in seine widerliche Visage sehen müssen und war stark geblieben.

      Er grinste immer noch, schließlich gab es keine Zeugen, wie so oft bei derartigen Vergehen. Die Unschuldsvermutung galt. Seine Augen durchbohrten sie immer noch.

      Sie betete. Hoffentlich kam er nicht davon. Doch auch wenn – es war richtig gewesen, für sich selbst einzustehen.

      Als sie aufstand, um zurück zu ihrem Platz zu gehen, musste sie an ihm vorbei. Einem Impuls folgend, blieb sie plötzlich direkt vor ihm stehen. „Verrecke, du Hurensohn!“ Dann bespuckte sie ihn.

      Sofort kamen Ordnungskräfte und führten sie zu ihrem Platz, während die Richterin sie verwarnte und mit einer Ordnungsstrafe drohte. Doch sie fühlte sich gut – sie hatte ihm in seine provokant zur Schau getragene Unschuldsfresse gerotzt und fühlte sich zum ersten Mal befreit – zumindest für den Moment.

      Noch ist der Prozess nicht zu Ende, dachte sie und suchte Patricks Augen unter den Zuschauern.

      17

      Michaela Schubert ging den langen Flur des Frauenhauses entlang, stoppte vor einer Tür und klopfte. Als von innen geantwortet wurde, öffnete sie die Tür und trat ein.

      Frank Lindner hob den Kopf und blickte ihr freundlich entgegen.

      „Frau Schubert.“

      „Sie wollten mich sprechen?“

      „Ja, ich wollte mich erkundigen, ob es Ihnen wieder gut geht. Frau Klossek sagte, dass Sie letztens einen heftigen Migräneanfall hatten?“

      Er musterte sie, und Michela fühlte sich plötzlich unter diesem Blick unwohl.

      „Es ging mir aber schnell besser, und jetzt ist alles wieder gut, danke.“

      „Sie hätten nach Hause gehen sollen. Ich möchte, dass keiner meiner Mitarbeiter sich durch den Tag quälen muss. So arbeiten wir hier nicht. Nur für’s nächste Mal.“

      „Danke.“

      Lindner lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und musterte sie nachdenklich, bevor er weitersprach. „Wissen Sie, wir kümmern uns hier um schwerst traumatisierte Menschen. Um das zu können, müssen wir auf uns selbst gut aufpassen, das gilt auch für Sie, Frau Schubert – verstanden?“

      „Schön, dass Sie das so sehen, danke.“ Michaela machte Anstalten zu gehen.

      „Sie sind geschieden, Frau Schubert, und haben eine Tochter, richtig?“

      Michaela hielt inne. Worauf wollte Lindner hinaus? Sie antwortete zögernd: „Ja. Ist alles eine Frage der Organisation.“

      „Oh, natürlich, davon bin ich überzeugt. Ich frage nicht aus Neugier. Frau Klossek sagte mir, bevor sie in Urlaub ging, dass Sie gern auf Vollzeit gehen würden. Das wäre eine ziemliche Umstellung für Sie – und für Ihre Tochter, oder?“

      „Das stimmt, aber ...“

      Michaela wollte etwas sagen, etwa, dass sie es sich durchaus zutraute, mehr Stunden zu arbeiten und dass sie das Geld unbedingt brauchte, doch Lindner kam ihr zuvor.

      „Aber wenn Sie es sich zutrauen, und das tun Sie, schließlich hätten Sie sonst nicht gefragt, tue ich es auch. Ich könnte Sie ab nächsten Monat auf sechs Stunden setzen – zunächst. Das bekomme ich ohne Probleme beim Träger durch. Dann sehen wir weiter, okay?“

      „Okay, danke.“

      Michaela wollte gehen, doch Lindner hielt sie zurück. „Frau Klossek, verstehen Sie sich eigentlich gut mit ihr?“

      Michaela stutzte. Worauf wollte er hinaus? „Schon“, sie zögerte. „Gibt es irgendetwas …?“

      „Nein! Nein, überhaupt nicht.“

      Lindner hatte abwehrend seine Hände gehoben.

      „Ich arbeite wirklich sehr gern mit Sigrid Klossek zusammen“, erklärte Michaela mit Nachdruck.

      Lindner lachte verbindlich. „Genau das wollte ich hören. Nur für den Fall, wenn ich unterwegs bin oder Urlaub habe, wie demnächst, dann ist eine gute Zusammenarbeit umso wichtiger. Apropos – Sie haben noch gar nicht Ihren Jahresurlaub eingetragen? Kümmern Sie sich bitte gleich darum, ja?“

      „Mache ich. Und noch mal vielen Dank.“

      Sie verließ Lindners Büro und schloss die Tür hinter sich. Dann blieb sie einen Moment stehen – ihre Beine schlackerten, und auch ihre Hände zitterten. Sie atmete tief durch und lief den Flur zurück.

      18

      „Weiß man schon, wer die Tote ist?“, erkundigte Heribert sich und stellte seine Kaffeetasse ab.

      Er war gerade erst im Kommissariat der Kripo Korbach eingetroffen. Er griff nach den Fotos, die auf dem Schreibtisch lagen, und betrachtete sie nacheinander.

      Witzbold drückte seine Zigarette aus und schloss das Fenster. „Nein, sie war nackt. Keine Kleidung, keine Papiere, nichts.“

      „Okay, das sehe ich. Man hat vermutlich auch die Umgebung abgesucht. Aber könnte es nicht sein, dass der Täter die Kleidungsstücke und ihre persönlichen Gegenstände etwas weiter weg vom Tatort entsorgt hat?“

      Witzbold schüttelte den Kopf. „Es sind sogar Spürhunde zum Einsatz gekommen.“

      Heribert wendete sich wieder den Fotos zu. Der Fundort der Leiche war ein dichtes Waldstück mit Mischbaumbestand, etwa vier Kilometer von der Innenstadt Bad Arolsens entfernt. Im Hintergrund war eine große grünliche Felsformation erkennbar – offensichtlich handelte es sich um Tuffstein. Die Tote lehnte in Sitzposition an einem Baum. Die Arme waren gekreuzt, eine Schlinge lag straff um ihren Hals. Sie war von hinten stranguliert worden.

      Heribert stutzte. „Was liegt da zwischen ihren Beinen?“

      „Bevor sie stranguliert wurde, hat ihr der Täter die Zunge herausgeschnitten und, wie du siehst, hat er ihr die Augen zugenäht. Erinnert an die Miniaturen der drei weisen Affen, findest du nicht?“

      „Mit Ausnahme von ‚nichts Böses hören‘ – die Ohren der Toten sind unversehrt.“

      Witzbold nahm eins der Fotos und betrachtete es ebenfalls. „Stimmt.“

      Heribert dachte an das Bücherregal seiner Eltern, auf dem diese bekannte Affenminiatur stand. „Vielleicht soll es eine Erweiterung des Ganzen darstellen – nichts Böses tun? Schließlich ist sie gefesselt.“

      Nur kurz blieb sein Blick an den verstümmelten Füßen der Toten hängen. Zudem war eine Hand fast abgetrennt und hing nur noch an einem

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