Lebenskreis. Hilla Beils-Müller
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Einmal, so erinnerte sich Annemarie, fuhr die Familie in die nahegelegene Stadt Koblenz, um Wintersachen einzukaufen.
Gutgelaunt malte sie sich in Gedanken hübsche rote Schuhe, einen königsblauen Anorak, sowie ein buntes Nachthemdchen und Unterwäsche aus.
Heute durfte sie alles bestaunen und glückliche Stunden erleben. Annemarie jubelte in ihrem Herzen.
Die Fahrt verlief mit wenigen Gesprächen. Auch die Schwestern schienen halbwegs versunken zu sein in ihren Wünschen und Träumen, vorbei an den Habseligkeiten jener bescheidenen Zeit.
Leider passierte eine kleine Misere im großen Kaufhaus dieser Stadt. Die Familie schaute sich um in dem riesigen Sortiment der Angebote, die so erstaunlich preiswert angepriesen lockten, dass alle stehen blieben, nur Annemarie nicht.
Sie ging weiter und schaute unentwegt nach dem königsblauen Anorak aus ihren Gedanken, flanierte fröhlich umher, bewegte sich zwei Rolltreppen hoch und vergaß für viele Minuten ihre Familie.
Plötzlich blieb sie stehen. Oh je, bis zur Möbelabteilung war sie vorgedrungen. Annemarie verspürte Angst, drehte sich um und lief zurück, schaute nach rechts und links. Eine große Not überkam ihr banges Herz. Wo befanden sich die Eltern und Schwestern? Gezielt ging sie auf eine Kassiererin zu und erzählte ihr das Missgeschick.
Die Dame lächelte freundlich, nahm ein Mikrofon zur Hand und sprach: „Hier an der Kasse sieben wartet das Mädchen Annemarie auf ihre Familie! Ich wiederhole: Hier an der Kasse sieben wartet das Mädchen Annemarie auf ihre Familie!“
Wie unbeschreiblich glücklich fühlte sich Annemarie in den Armen der Mutter und niemand äußerte Kritik. Die Erfahrung des Selbstständig-Werdens war Lehre genug für Annemarie und bedurfte keiner schadenfrohen Bemerkung.
Noch an diesem Nachmittag kaufte sie mit Unterstützung der Schwestern den heißersehnten königsblauen Anorak, der diese Geschichte unvergessen machte und dankbar im Herzen bewahrte.
Schalom und Annemarie
Eine wahre Geschichte
Annemarie wohnte mit ihren Eltern und zwei Schwestern in Mayen in der Vulkaneifel. Zu ihren Hobbys zählten Schwimmen, Rodeln, kreatives Basteln und draußen spielen, am liebsten mit ihrem Cousin Schalom, der nur zwei Wochen älter war als sie. Annemarie lebte fröhlich und unbeschwert. Sie hatte mittelblondes gelocktes Haar und blaue Augen. Ihr zartes Wesen zeigte oft eine gesundheitliche Schwäche, die trotz mancher Einschränkung ihre gute Laune jedoch nicht vertreiben konnte. Aufmerksam nahm sie viele Herausforderungen an, vermochte mit Engelsgeduld und Fingerfertigkeit effektvoll zu dekorieren, vor allem zu den Kalenderfesten des Jahres. Schalom lebte still und zurückhaltend. Er hatte blonde Haare und zeigte sich stets nachdenklich und hilfsbereit, war weniger kreativ, dafür galt sein Interesse den Modeleisenbahnen, Gleisen, Schranken und motorbetriebenen Zubehörteilen. Annemarie sah in ihm ihren allerbesten Freund und Vertrauten.
Weil die Mütter Schwestern waren, sahen sich die Kinder fast täglich. Sie besuchten den gleichen Kindergarten und die gleichen Schulen. Schon bald war deutlich zu spüren, dass zwischen ihnen eine nahezu geschwisterliche Liebe gewachsen war, in dem sich der Eine für den Anderen einsetzte, egal was geschah.
Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit blieb fortwährend bis ins Erwachsensein bestehen.
Schalom machte sein Abitur und studierte Mathematik, Physik und Informatik an der Universität in Bonn. Annemarie erhielt eine Bürostelle beim Finanzamt in Mayen. Schalom absolvierte sein Diplom und wurde Lehrer am Gymnasium in Münstermaifeld.
Damals, als er mit seinem Lehramt begonnen hatte, gratulierte ihm Annemarie von Herzen und prophezeite mit lieben Worten: „Schalom, irgendwann besuche ich dich während einer Mathematikstunde, sitze einfach still dabei und höre deinem Lehren zu.“
Die Jahre zogen wie im Flug vorbei, und erst kurz vor seiner Pensionierung fielen Annemarie diese Sätze wieder ein!
Oh je, und ach du lieber Gott, dachte sie, ich wollte doch einmal Mäuschen spielen und dem Unterricht von Schalom beiwohnen. Annemarie pochte das Herz, könnte etwa dieser innige Wunsch noch realisierbar sein, irgendwie seine wohlwollende Erfüllung finden können?
Annemarie rief, ohne mit Schalom darüber zu sprechen, die Leiterin des Gymnasiums an, die überaus freundlich der Idee ihren Zuspruch gab, und einen heimlichen Besuch zu organisieren versprach.
Sie rief am folgenden Tag zurück und sagte: „Frau Annemarie, kommen sie übermorgen in die Klasse zehn zum Mathematikunterricht, ich führe sie persönlich dorthin und platziere sie vor Beginn der Schulstunde ganz nach hinten, weil sie sich hinter den großen Mädels und Jungs dezent verstecken können. Dann startet ihr kleines Abenteuer und wird seinen witzigen Verlauf nehmen.“
Annemarie bedankte sich und fieberte dem Tag entgegen.
Mitten in der Nacht stiegen heftige Zweifel in ihrem Innern hoch und die Gedanken kreisten von Einst nach Heute.
War ihre Idee überhaupt noch zeitgemäß und in der Lage, Schalom zu überraschen? Kam die Vergangenheit nicht entschieden zu spät, sogar irgendwie peinlich und albern daher? Interpretierte er das Ganze als blödes, kindisches Theaterstück? Die drei Fragezeichen wollten Annemarie vom Vorhaben zurückhalten. Schlussendlich fasste sie all ihren Mut und die Freundschaft zu Schalom zusammen, und dachte an den Zuspruch der Direktorin, die am kommenden Morgen auf sie warten würde.
Pünktlich um 09:15 Uhr kam Annemarie in der Schule an, ging zum Direktorinnenzimmer und klopfte an die Tür. Die nette Dame öffnete mit einem Lächeln: „Kommen Sie, wir eilen auf dem schnellsten Weg in den Klassenraum. Frau Annemarie, ich bin so begeistert von ihrer Idee!“ Annemarie setzte sich auf den einzigen noch freien Stuhl ganz nach hinten, die Schüler und Schülerinnen schauten sie fröhlich und fragend an.
Wieso erschien diese fremde ältere Dame in Begleitung der Direktorin, die beim Hinausgehen den Finger auf den Mund legte und damit um Verschwiegenheit bat?
Fünf Minuten später öffnete sich die Tür und Schalom trat ein, setzte sich nach dem Guten-Morgen-Gruß
an das Pult und fragte in die Runde hinein: „Wer von Euch hat die Zusatzaufgabe zu Hause gelöst? Ich bitte um Handzeichen! Wer möchte sie an der Tafel vorrechnen?“
Annemarie versteckte sich geschickt hinter den sitzenden Mädels. Sie machte sich ganz klein, weil Schalom interessiert umherschaute.
„Übrigens“, so sprach er weiter, „heute ist meine vorletzte Stunde in dieser Klasse vor meiner Pensionierung. Ich möchte keine Tränen sehen, denn die Schule stellt dafür keine Papiertaschentücher zur Verfügung.“
Er grinste schelmisch und just in diesem Augenblick stellte sich Annemarie aufrecht hin und sagte: „Hallo Schalom, ich grüße dich herzlich. Ich bin, wie einst besprochen, zum Mäuschen-Spielen hergekommen!“
Er schaute total verblüfft! Mit offenem Mund und aufgerissenen Augen saß er da. Was war denn das jetzt?! Als er begriffen hatte, was mit ihm geschah, sprang er auf und ging auf Annemarie zu. Er schloss sie herzlich in die Arme. Und nun hätte ER dringend ein Taschentuch gebraucht!
Die Überraschung