Bayerische Hinterhand. Dinesh Bauer
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Ewig grüßt das Murmeltier. Hauptkommissar Armin Reimers erlebte das, was man gemeinhin gern als ein Déjà-vu bezeichnete. Im Kopfkino flimmerte ein Streifen mit sich ähnelnden Szenen in Endlosschleife über die Großhirnrinde. Irritiert schloss er für einen Moment die Augen. Das sich munter drehende Bilderkarussell verlangsamte sich und die blitzlichtartig aufleuchtenden Momentaufnahmen verblassten. Das Gefühl, alles schon einmal durchlebt zu haben, war hochgradig verstörend. Ja, es war beängstigend. Es war, als ob er auf dünnem Seil über einen bodenlosen Abgrund balancierte – und jeden Moment abzustürzen drohte. »Es ist wie verhext, immer wieder das Gleiche in Grün. Wieso passiert das ausgerechnet mir!« Vielleicht war es an der Zeit, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und sich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Reimers hieb in einem Anflug von Jähzorn auf das Lenkrad ein. »Verdammter Mist, da wirst du ja jeck in der Birne!« Wie es ihm seine Yoga-Lehrerin eingetrichtert hatte, formte er eine Raute vor der Brust und atmete dreimal tief durch. »Ommmmm! Ene Mene muh!« Dann war er bereit. Er tastete nach dem Türgriff und wuchtete sich aus seinem Dienstwagen. Ein optisch unauffälliger Audi A 4 samt Turbo-Triebwerk und Tarnkennzeichen. Kein BMW, es musste schließlich nicht jeder gleich wissen, dass es sich um ein Kripo-Fahrzeug handelte. Der Kommissar blickte sich suchend um. Außer den zwischen den Einsatz- und Löschfahrzeugen herumwuselnden Feuerwehrleuten und den im Föhnwind schaukelnden Absperrbändchen gab es nicht wirklich viel zu sehen. So, das hier war also Grainbach. Die Luft war noch mild und der Abendhimmel von einem fast schon künstlich wirkenden ultramarinen Blau. Die Vorstellung, dass an diesem idyllischen Örtchen ein kaltblütiger Mord geschehen war, erschien ihm surreal. Und das am helllichten Tag. Zwei Kriminaltechniker in weißen Overalls und Plastiküberschuhen waren auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit der Sicherung von Tatortspuren beschäftigt. Mit der akribischen Sorgfalt eines Paläontologen klaubten sie mit Greifzangen Papierschnipsel, Kronkorken und Zigarettenstummel vom Wegrand – und verstauten alle möglichen und unmöglichen Beweisstücke in beschrifteten Folienbeuteln aus Polypropylen. Die mit ihrer Sisyphusarbeit beschäftigten Kriminaltechniker beachteten ihn nicht weiter. Reimers legte den Kopf schief. Der schöne Schein, die glatte Fassade wiegte einen leicht in Sicherheit. Professionalität, Erfahrung waren das eine, ein feines Gespür, ein ausgeprägter Jagdinstinkt das andere, was einen guten Ermittler ausmachte. Jeder Fall war anders gelagert, doch immer ging es im Prinzip darum, das feine Gestrüpp menschlicher Beziehungen und Verflechtungen zu entwirren. Sein Job erinnerte ihn manchmal an den eines Parapsychologen, der mit seinem Echolot geduldig die Untiefen der menschlichen Abgründe vermaß. »Als denn, werfen wir das Senkblei aus« – Reimers gab sich einen Ruck.
Die Sonne hatte ihm den Nachmittag über durchs Bürofenster zugelächelt – und um Punkt halb sechs hatte er den Schlussbericht zur Strafsache mit dem Aktenzeichen 605/Js 4711/16 eingetütet und an den zuständigen Staatsanwalt geschickt. Ein unbequemer, heikler Fall, bei dem im Hinblick auf Flüchtlingsdebatte und Terror-Hysterie ein Höchstmaß an Fingerspitzengefühl gefragt war. In der Flüchtlingsunterkunft Raubling war es zu einem gewalttätigen Übergriff gekommen. Die Täter hatten sie anhand der am Tatort gefundenen Spuren rasch überführt. Zwei irakische Asylbewerber hatten eine aus Eritrea stammende Frau in der Gemeinschaftsküche überfallen, zu sexuellen Handlungen genötigt und ihr schwere, wenn auch gottlob nicht lebensgefährliche Schnittverletzungen zugefügt. Akte zu, Klappe dicht. Ein Verfahren, mit dem sich keine Lorbeeren ernten ließen. Die Sackgesichter würden zu zwei, drei Jahren Haft verurteilt werden – und ihr Anwalt Berufung einlegen. Wenn alles so lief wie üblich, wären die beiden in gut einem Jahr wieder frei. Rechtsstaat nannte sich das – Reimers hatte den Gedanken verdrängt und sein Büro im dritten Stock des Polizeipräsidiums Oberbayern-Süd hinter sich verriegelt. Reimers war eben auf sein Rennrad gestiegen, als sein Handy läutete. Er hatte sich mit einem alten Freund von der Uni in einem Café in der Innenstadt verabredet – und sein erster Gedanke war, dass ihn Dirk um Absolution bitten würde, weil es »mal wieder etwas später« werden würde. Die im Fünfvierteltakt groovenden Triolen brachten ihn auf die richtige Spur. Das Dave-Brubeck-Quartett swingte in der Gesäßtasche seiner Cordhose. Da gehörte es definitiv nicht hin – und es bedurfte einiger spastischer Verrenkungen, bis er das Klingelteil am Ohr hatte. Ein schneller Blick aufs Display hatte ihn vorgewarnt – es war nicht Dirk, es war schlimmer: »Haberl ruft an!« Seine Miene hatte sich schlagartig verdüstert. Er mochte Magdalena Haberl, er schätzte sie als Mensch und als zuverlässige, wenn auch manchmal etwas hyperaktive Mitarbeiterin. Nur hier und jetzt war er nicht sonderlich erfreut, ihre immer etwas überdreht klingende Stimme zu hören. Er musste sich mächtig zusammennehmen, um nicht loszupoltern. »Ach nee, ein Mord, ein Attentat? Nach Feierabend, wie schön«, hatte er ins Telefon geknurrt, als er erfahren hatte, dass es »Arbeit« für ihn gab. Dabei hatte sich Reimers auf einen entspannten Abend gefreut – Dirk war ein echter Kumpel, mit dem man ein paar Bierchen zischen, sich genüsslich das Maul über den Werdegang früherer »Freunde« zerreißen und über die Absurditäten einer immer kränker werdenden Gesellschaft philosophieren konnte. Doch aus dem sozialphilosophischen »Kolloquium« würde zumindest heute nichts werden.
Sechs steinerne Stufen führten zur schmiedeeisernen Eingangstür hinauf. Er drückte dagegen und ein Flügel des Türchens schwang mit gequältem Quietschen auf. Der Friedhof von Grainbach war – wenn man das so sagen durfte – ein nettes, sonniges Plätzchen. Die Bewohner waren jenseits von Gut und Böse und schienen keinerlei Anstoß daran genommen zu haben, dass der Mordschütze ausgerechnet hier, an einem Ort des Todes, zur Tat geschritten war. Das Opfer, die persönlichen Daten hatte er gerade nicht parat, war nicht hier, sondern unten im Biergarten des Gasthofs »Zur Linde« gestorben. Die Befragung der Zeugen hatte er seinem Stellvertreter, Kriminaloberkommissar Pföderl, überlassen. Pföderl, den seine Freunde »Barthl« nannten, sprach dieselbe, ihm zum Teil unverständliche, Sprache der Einheimischen. Barthl war ein durchaus fähiger Kriminalbeamter, etwas störrisch, stur und eigensinnig, das ja, aber seinem Vorgesetzten gegenüber verhielt er sich loyal. Da hatte Reimers in seiner Zeit beim LKA in München ganz andere Fälle von Intrigantentum, Mobbing und Heuchelei erlebt. Mit seinen dunkelbraunen Locken, dem markanten Quadratschädel und einem fast südländischen Teint zählte Pföderl zu einem bestimmten Typus Mann, mit dem man verwegenes Draufgängertum und kaltblütige, kühne Entschlusskraft assoziierte. Wäre da nicht die sich unter der Trachtenjoppe abzeichnende Weißbier- und Schweinsbraten-Wampe gewesen, hätte man Pföderl durchaus die Rolle des unerschrockenen Wildschützen und Weiberhelden abgenommen. Reimers musste einräumen, dass der Mundart-Ausdruck »wuider Hund« respektive »Hundling« die Persönlichkeit seines zu unkonventionellen Ansichten neigenden Kollegen treffend charakterisierte. Sein Stellvertreter war in irgendeinem Kuh-Kaff aufgewachsen und wusste, wie die alteingesessenen Bewohner dieses Landstrichs tickten. Ein harter, rauer und verschlossener, wie es hier hieß »hinterfotziger« Menschenschlag, der sich nicht in die Karten schauen ließ. Bartholomäus Pföderl wusste diese dickköpfigen Kerle zu nehmen, er würde erfahren, was zu erfahren war.
Der Kommissar ließ sich Zeit. Um die besondere Atmosphäre des Orts, den Genius loci, einzufangen, schlenderte er mit der ruhigen Gelassenheit eines Friedhof-Flaneurs durch die sich vor ihm ausbreitenden Gräberreihen. Mit einem stummen Nicken grüßte er einen der Beamten des Erkennungsdiensts, der sich anschickte, im Umfeld eines frischen, mit Kränzen, Gebinden und Gestecken überhäuften Grabes nach einem Hinweis auf den Täter zu suchen. Sein Kollege stocherte derweil mit der Penetranz eines Penners in den Müllbehältern herum. Ihm fiel auf, dass der Kies bei jedem Schritt unter seinen Ledersohlen knirschte. Heimlich, still und leise konnte hier niemand herumschleichen. Reimers versuchte zu rekonstruieren, welchen Weg der Schütze genommen hatte, um möglichst unbemerkt zur Nordwestecke des Friedhofs zu gelangen. Dort war er hinter der halbhohen Einfriedungsmauer in Stellung gegangen, um den Biergarten der »Linde« ins Visier zu nehmen. Nummerntafeln kennzeichneten die wichtigsten Fundstellen. Die Spurensicherer hatten bereits jeden Quadratzentimeter abgegrast – nun war ein Fotograf dabei, jedes noch so winzige Detail auf den Speicherchip seiner teuer aussehenden Digitalkamera zu bannen. Nachdenklich strich er sich mit dem Zeigefinger über den dünnen Bartflaum auf seiner Oberlippe. Hatte der Täter das Gewehr dabeigehabt oder hatte er es bereits in der Nacht zuvor hier irgendwo deponiert? Keine 30 Meter entfernt erhob sich die Aussegnungshalle, ein schmuckloser Klinkerbau