Hetzwerk. Peter Gerdes

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Hetzwerk - Peter Gerdes

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der eben zum Trinken angesetzt hatte, erstarrte in der Bewegung. Das Bier lief ihm in dünnen Strömen übers Kinn und versickerte in seinem dunkelblauen Troyer. »Was will er?«, fragte er nach, obwohl die plötzliche Blässe seines Gesichts verriet, dass er sehr wohl verstanden hatte.

      »Carsten Fecht will uns an den Pranger stellen«, fasste Lars Noack zusammen. »Uns und auch andere. Um sich selber aus der Schusslinie zu nehmen. Die Vorwürfe gegen ihn kann er ja schlecht entkräften, weil die einfach stimmen und bewiesen sind. Also will er zeigen, dass andere genauso schlimm sind. Oder noch schlimmer.« Er zeigte auf Adams: »Weißt du noch, die Fotos, wo du mit erhobenem Arm beim Osterfeuer stehst? ›Sieg Heil‹ und so? Damals haben wir mit viel Mühe verhindern können, dass die veröffentlicht wurden. Ich bin mir sicher, dass Carsten Fecht die noch irgendwo gespeichert hat.«

      »Aber was denn … wieso denn?« Mit Verspätung wischte sich Adams das Kinn ab. »Ich hab’ euch doch erzählt, dass ich damals völlig besoffen war! Da ist mir das eben unterlaufen. Daraus kann man mir doch jetzt keinen Strick mehr drehen!«

      »Das ist dir aber nicht nur diese eine Mal passiert, sondern mindestens dreimal«, verbesserte Noack. »Und das sind nur die dokumentierten Fälle! Und dass man dir einen Strick daraus dreht, sobald das in der Zeitung gestanden hat, das kann ich dir versprechen. Einen sehr haltbaren Strick, da kannst du lange dran baumeln.«

      »Ja aber, ich war doch … betrunken –.« Friedo Adams’ Stimme erstarb.

      Jetzt merkt er es wohl selber, dachte Noack. Alkohol tut nichts rein in die Köpfe, sondern lässt nur das raus, was vorher schon drin war. Das ist nicht jedem klar, aber vielen. Wenn das, was er getan hat, veröffentlicht wird, ist es mit seiner politischen Karriere vorbei, noch ehe sie richtig angefangen hat. Und nicht nur mit seiner.

      Lautes Hallo in der Nähe ließ ihn aufblicken. Aha, Carsten Fecht begann sich zu verabschieden. Das pflegte eine Weile zu dauern, denn er bevorzugte die englische Methode; möglichst jeder Anwesende sollte noch seinen Händedruck und ein Bonmot dazu bekommen.

      »Der ist doch auch nicht mehr nüchtern«, knurrte Friedo Adams. Von seiner Begeisterung für Fecht war nichts mehr zu bemerken. »Wenn der von den Bullen angehalten wird, ist er seinen Lappen los. Und sein Landtagsmandat kann er sich in die geölten Haare schmieren.«

      Lars Noack bezweifelte das stark; in Hannover war schon manche politische Karriere trotz alkoholbedingter Delikte weitergegangen. Sofern der volltrunken am Steuer Erwischte männlich war.

      »Wie hat er sich selber genannt?«, fuhr Adams fort. »Habe ich vorhin online gelesen, war ganz frisch. Roter Esel? Passt! Da gibt es doch so ein Sprichwort, von wegen den Esel schlagen, obwohl man den Sack meint.« Er knallte seine rechte Faust in die linke Handfläche. »Wenn dieser Sack das wirklich macht, was er angekündigt hat, dann wird sich das Sprichwort wohl bewahrheiten.«

      Lars Noack verdrehte die Augen. »Wenn er das wirklich macht, dann ist es hinterher zu spät«, sagte er. »Wenn all das öffentlich wird, worüber Carsten Fecht Bescheid weiß, dann rettest du nichts mehr. Für dich nicht, für mich nicht und für viele andere auch nicht. Genossen oder nicht.«

      Adams knallte sein leeres Glas auf den nächstbesten Tisch, ohne auf die missbilligenden Mienen der Maifeiernden, die dort saßen, zu achten. »Ich muss dringend mein Bier wegbringen«, schnaufte er und stapfte davon.

      Auch Carsten Fecht brach jetzt endlich auf, nicht ohne sich noch ein paarmal umzudrehen und den Umstehenden zuzuwinken. »Treibt’s nicht zu dolle!«, rief er laut. »Denkt daran, morgen früh heißt es: heraus zum 1. Mai!«

      Dass ihm dabei nicht die Zunge verdorrt, dachte Lars Noack. Auch er begann, sich durch das Gedränge hindurch in Richtung Rathausbrücke zu schieben. Sein Auto hatte er zwischen den hochpreisigen Neubauten auf der gentrifizierten Halbinsel Nesse abgestellt. Fecht anscheinend auch. Der große Mann mit dem Pferdeschwanz war ihm schon 20, 30 Meter voraus. Noack hatte sich überlegt, ob er Fecht ansprechen sollte, abseits der Feiernden und bei fortschreitender Dunkelheit. Er hatte sich dazu aber nicht durchringen können. Jetzt war es sowieso zu spät dafür; Fecht schritt flott aus, sein Vorsprung wuchs stetig.

      Noacks Wagen war ein dunkelgrauer Mazda, schon acht Jahre alt. Dass der SPD-Stadtrat mit seiner politischen Tätigkeit Reichtümer angehäuft hätte, hatte ihm bisher noch niemand nachgesagt. Er stellte ja auch nicht zur Schau, was er besaß. Tatsächlich hatte er seit einiger Zeit einen Aufsichtsratsposten beim Energieversorger Nordwestkraft inne, der ihm einen sehr netten Nebenverdienst bescherte, ohne dass er sonderlich viel dafür tun musste. Dafür fehlte ihm auch jede Qualifikation. Verdient hatte er sich diesen Job einzig durch Verlässlichkeit beim Abstimmungsverhalten. Auch Carsten Fecht hatte das seinerzeit abgenickt.

      Wenn der wirklich mit allem an die Öffentlichkeit ging, was er so wusste und belegen konnte, dann war es mit der Extrakohle bald vorbei, da war Noack sich sicher. Dann würde er das große Haus in Leer-Loga auch nicht mehr lange halten können. Den Kaufvertrag dafür hatte er unmittelbar nach seinem informellen Treffen mit Fecht unterschrieben. Dabei hatten der Aufsichtsratsposten und die Bezüge dafür noch volle elf Monate auf sich warten lassen. An den Schulden, die sich in diesen elf Monaten angehäuft hatten, knabberte Noack immer noch.

      Carsten Fecht lief mit langen Schritten an Noacks Auto vorbei, ohne es eines Blickes zu würdigen. Sein eigener Wagen stand 50 Meter weiter. Ein Porsche Cayenne, ein SUV, der sich mit 20 Litern Super auf 100 Kilometer sicher nicht zufriedengab. Dafür war er rot lackiert. Oh ja, äußerlich war Fecht immer ganz auf Parteilinie.

      Rotes Muli, dachte Noack. Von wegen! Wenn es in der Partei Leute gab, die ständig ackerten und buckelten und die ganze Last für die anderen trugen, dann waren das Genossen wie er selbst! 80 Wochenstunden im Dienst der Allgemeinheit für kaum mehr als eine Ehrenamtspauschale. »Wir schuften hier wie die Grubenponys«, hatte mal ein Neumitglied aus dem Ruhrgebiet abends beim Bier getönt. Das hatte kaum jemand verstanden. Kohlegruben hatte es in Ostfriesland nie gegeben, und um zu wissen, dass die mit Kohle vollgeschaufelten Loren früher von Ponys durch abschüssige Stollen ans Tageslicht gezogen worden waren, musste man in Geschichte aufgepasst haben.

      Wenn man sich so die Politik der SPD in Ostfriesland ansah, fand Noack, dann hatten die allermeisten Genossen in der Schule gepennt. Tief und fest. Nicht nur in Geschichte.

      Er stieg ein. Der Cayenne setzte bereits aus der Parklücke zurück. Noack startete seinen Motor, parkte aus, fuhr los. Die roten Rücklichter des roten Porsche leuchteten vor ihm. Falls Carsten Fecht gerade nach Hause fuhr, dann hatte er denselben Weg wie Lars Noack. Natürlich wohnte er ebenfalls in Loga.

      Natürlich. Loga war der Stadtteil der Besserverdienenden. Wo sonst sollte solch ein Rotes Muli wohnen? Etwa in der Altstadt, dem ehemaligen Rotlichtquartier? Hier war die Gentrifizierung zwar ebenfalls im Gange, aber noch längst nicht vollendet, außerdem waren viele Häuser zwar nett anzuschauen, aber eng, und die Grundstücke waren klein. Oder auf der Nesse? Die ehemalige Industriebrache mitten in der Stadt war erst vor ein paar Jahren mit teuren Stadtvillen bebaut worden; hier zu wohnen, war etwas zu offensichtlich. Heisfelde war etwas für die kleineren Leute, die Moormerlandsiedlung gut genug für Lehrer. Der Rest der Wohnquartiere steckte voller prekärer Einsprengsel. Dort wollte ein SPD-Landtagsabgeordneter zwar gewählt werden, aber doch bestimmt nicht wohnen!

      Noack verschaltete sich; sein Getriebe krachte. Ein Spaziergängerpärchen drehte sich nach ihm um. Er rief sich zur Ordnung. Warum so bitter, fragte er sich, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands war doch immer noch seine Partei, hatte immer noch das große S an erster Stelle!

      Aber nur auf dem Papier. Noack erinnerte sich noch allzu gut, wie nach den Landtagswahlen 2013 Rot-Grün mit hauchdünner Mehrheit die Landesregierung stellen konnte. Wie er das gefeiert, was für Hoffnungen

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