Seelenfeuer. Cornelia Haller

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Seelenfeuer - Cornelia Haller

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das Gespräch mit Matthias vielleicht lebenswichtige Zeit verloren hatte.

      »Nun, was sagst du?« Mit diesen Worten packte die Altmutter Luzias Arm. Ohne es verhindern zu können, schoss eine gewaltige Welle Ungeduld und Furcht durch Luzias Leib.

      »So habt doch Geduld und lasst mich meine Arbeit tun!«, gab Luzia zurück. Sie hatte Mühe, die Ruhe zu bewahren.

      Die Wachterin wagte nicht, ihr zu widersprechen. Mit lauten Schritten stampfte sie zur Tür hinaus.

      Mit jeder neuen Wehe, die über ihren Körper hinwegrollte, schrie die junge Korbmacherin laut auf und krallte die Finger in den Strohsack. »Das hier ist die Hölle«, stöhnte Anselma zwischen zwei Wehen.

      Hinter sich hörte Luzia, wie Irmtraud und Sieglinde laut beteten, ansonsten rührten sie sich nicht von der Stelle. Luzia wusste, jetzt musste schnell etwas geschehen, sonst würden die Klageweiber die werdende Mutter mit sich in die Tiefe ziehen.

      »Zuerst brauche ich mehr Licht. So kann ich beim besten Willen nichts sehen!«

      Irmtraud sprang auf und eilte hinaus.

      »Und du bringst mir heißes Wasser und ein Leinen«, scheuchte Luzia die magere Frau des Flickschneiders auf.

      Auf Sieglindes Gesicht machte sich Erleichterung breit. Sie war froh, eine Aufgabe zu haben und das Zimmer verlassen zu können.

      »Luzia, ich bitte dich, so hilf mir doch! Ich glaube nicht, dass ich den Sonnenaufgang noch erleben werde«, flehte die werdende Mutter mit leiser Stimme, dabei wirkte sie so müde und kraftlos, dass Luzia sich ernsthafte Sorgen machte. Anselmas Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Unheilvoll kündigte sich bereits die nächste Wehe an. Irmtraud kam mit zwei Talglichtern ans Bett, und Luzia konnte besser sehen, wohin ihre Hände griffen.

      »Ich halte diesen Schmerz nicht mehr länger aus! Bitte mach, dass es aufhört«, bettelte Anselma hilflos, bevor sie in dem vergeblichen Versuch, den Schmerz zu ersticken, die Luft anhielt.

      Luzia nickte ihr zu, ihre Hände, die immer noch kalt und steif waren, fanden ihren Weg zu Selmas Bauch. Behutsam legte die Wehmutter ihre Handflächen auf die heiße, zum Bersten gespannte Haut. Sie spürte den kühlen Schauer, der die Gebärende durchlief. Mit einem Ausatmen lehnte Anselma sich zurück in das Kissen, ihre Anspannung ließ leicht nach. Luzias Hände lagen immer noch auf Selmas Bauch, und nun setzte ein wohliges Kribbeln unter ihren Händen ein. Während Anselmas Schmerz durch ihren eigenen Leib strömte, schloss die junge Wehmutter die Augen. Bald löste sich die Gebärende aus dem eisernen Griff der Angst.

      Luzia sah Anselmas fragenden Blick. Was war da gerade mit ihr geschehen?, fragte dieser Blick. Und woher kam das helle Glitzern in den Augen der Hebamme? Luzia spürte, dass Anselmas Schmerz erträglicher wurde, und schöpfte neuen Mut.

      Jetzt durfte Luzia keine weitere Zeit mehr verlieren. Ihre kundigen Finger tasteten behutsam und fest zugleich. Stück für Stück wanderten sie über Anselmas Bauch. Wo die Wehmutter die kleinen Füße des Kindes spüren sollte, befand sich der lange, fast ausgestreckte Rücken. Während sich der, Kopf auf der rechten Bauchseite der werdenden Mutter abzeichnete, befanden sich die Füße links. Das Kind lag falsch! Aus dieser Lage konnte es niemals geboren werden. Solange das Kleine quer im Mutterleib lag, waren die Wehen wirkungslos. Einzig eine Drehung konnte bewirken, dass sie ihren Zweck erfüllten und dem Kind ans Licht der Welt halfen. So brachten sie Anselma nur sinnlose Qualen. Wenn jetzt nichts geschah, würden die Wehen bald schwächer werden und dann würden sie wirklich Pater Wendelin brauchen. Luzia spürte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat.

      »Große Mutter, steh uns bei! Ich bitte dich, hilf mir und führe meine Hände«, betete Luzia stumm.

      Sie erschrak, als sie die tanzenden Schatten an der Wand entdeckte. Schwarz und unheimlich krochen sie immer näher. Luzia meinte, sie kichern zu hören.

      Entschlossen rief sie nach der alten Wachterin und reichte ihr ein kleines, prall gefülltes Flachsbeutelchen. »Das ist Beifußkraut. Bereitet daraus einen sehr starken Aufguss, rasch! Wenn Ihr etwas weißen Wein im Haus habt, wäre das noch besser als Wasser.«

      Das schwere, erdige Aroma des Beifußes breitete sich schnell in der niedrigen Kammer aus. Flink warf die Hebamme ein paar Samen des Bilsenkrauts in den dampfenden Becher und gab ihn Anselma zu trinken. Bilsenkraut nahm den Schmerz und entführte den Geist in selige Welten. Zuviel davon brachte allerdings den Tod! Als sie sicher sein konnte, dass die leicht berauschende Wirkung Selma beruhigt hatte und ihr weher Leib betäubt war, fettete Luzia ihre Hände mit Schweineschmalz. Vorsichtig, ganz behutsam glitten ihre Hände in Anselmas Leib. Die Wehen hatten dafür gesorgt, dass sich die Geburtswege unter Luzias Händen weich und weit anfühlten. Dank des Bilsenkrauts verspürte Anselma nur ein leichtes Ziehen im Leib. Obwohl sie ahnte, was die Hebamme tat, dass ihre Hände sich an einem Ort befanden, den nicht einmal sie selbst berührte, lag Anselma völlig still.

      Luzia wollte versuchen das Kind im Mutterleib zu drehen. Sie fühlte den kleinen, festen Kopf, einen kleinen Arm und ein angezogenes Beinchen. Schweiß floss ihr in einem dünnen Rinnsal von der Stirn, den Hals entlang und sammelte sich zwischen ihren Brüsten. Ein paar Strähnen ihres roten Haares klebten feucht an ihren Schläfen. Der kupferartige Geruch von Blut stieg ihr in die Nase. Luzia griff nach dem Köpfchen, um es nach unten zu drehen. Gleichzeitig versuchte sie den winzigen Körper dazu zu bringen nach oben zu gleiten. Doch immer wenn sie glaubte, jetzt könnte es ihr gelingen, drehte sich das Kind zur Seite. Ähnlich einem kleinen Fisch entglitt ihr das Ungeborene wieder und wieder. Wenn sich das kleine, aalglatte Körperchen einen Zentimeter bewegen ließ, rutschte es im nächsten Augenblick wieder in seine ursprüngliche Lage zurück. Luzia wusste, dass allmählich die Zeit knapp wurde. Anselma wurde zunehmend unruhig, denn die Wirkung des Bilsenkrautes ließ schon wieder nach. Allzu oft durften ihre Versuche jetzt nicht mehr misslingen. Aus den Augenwinkeln sah Luzia, wie die finsteren Schatten über die Wände leckten und sie verhöhnten. »Bist eine dumme Gans«, geiferten sie im Chor.

      Als sie erneut den kleinen Kopf nach unten drehen wollte, spürte sie, dass die Nabelschnur um den Hals des Kindes lag. Das Kind würde sterben, wenn es nicht bereits tot war. Welch eine Ironie, wenn die pulsierende Lebensader gleichzeitig den Tod brachte. Ihr schwand der Mut.

      »Großer Gott, hilf uns! Du kannst uns jetzt nicht im Stich lassen.« In einem letzten Versuch gelang es ihr, einen Finger zwischen den winzigen Hals des Ungeborenen und die todbringende Schlinge zu bringen.

      Luzias Mund fühlte sich an, als habe sie Sand gegessen. Als sie auf ihre Unterlippe biss, schmeckte sie warmes Blut auf ihrer Zunge. Es verursachte ihr fast Übelkeit. Doch nun spürte sie auch das Pulsieren der Nabelschnur. Das Kind lebte!

      Jetzt zählte jeder Augenblick. Jeder hoffnungsvolle Atemzug. Jeder wertvolle Herzschlag. Hinter ihr leierten die alte Wachterin, Irmtraut und Sieglinde ihre Gebete herunter: »Ave Maria, gratia plena … Sancta Maria, Mater Dei …« Luzia spürte ihre Blicke auf sich ruhen. Auch ihnen war nicht entgangen, dass die Zeit verran.

      »Gib nicht auf, du bist auf dem rechten Weg!«

      Luzia hob ruckartig den Kopf und sah auf die Feuerstelle. Das Flüstern war aus den Flammen gekommen. Ein kaum sichtbares Lächeln umspielte ihren Mund.

      Jetzt suchte sie nach dem Augenblick. Der winzigen Lücke in den mächtigen Speichen im Rad der Zeit, in welche sie mit Gottes Hilfe den Stab des Schicksals senken konnte. Nur einen Atemzug. Und noch einen. Die Minuten verrannen. Und da, endlich vermochten Luzias Finger das Kleine zu greifen und es schließlich im Bauch der Mutter zu drehen, wobei sie die Nabelschnur über den Kopf des Kindes gleiten ließ, damit sie keinen Schaden mehr anrichten konnte.

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