Harold. Einzlkind
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einzlkind
Harold
Roman
FUEGO
Für Katja
Donnerstag
1
Harold glaubte, nach Mutters Tod erbe er die Villa und erhänge sich zweimal die Woche in der Vorhalle. Weiter hat er nie gedacht. Als Mutter starb, waren kaum die Schulden zu begleichen, und hätte Onkel Derringham nicht wie ein tapferer Held all den Papierkram an sich gerissen, wer weiß, was aus Harold geworden wäre. Glücklicherweise konnte Onkel Derringham das Mietshaus in der Golborne Road auf seinen Namen überschreiben und Harold zu günstigen Konditionen in Parterre einquartieren. Mittlerweile weiß Harold die Sicherheit zu schätzen, den Rückzug und das Ewige, manches Mal sogar den Einklang mit sich selbst und auch mit dem Schild auf seiner Schürze, auf dem steht: Ich bin Harold. Was kann ich für Sie tun?
Viel ist es nicht, was Harold für die Menschen tun kann. Sie erwarten auch nicht viel, und an einem Tag wie heute schlägt das Wetter auf das Gemüt der Menschen, denn aus dem Himmel schlagen Blitze ein und töten Bäume. Es ist nur zu hören, zu sehen ist gar nichts. Fenster gibt es keine hier unten. Das war schon immer so und nie hätte jemand etwas anderes erwartet, wenn er das Unterirdische aufsucht. Das Licht ist künstlich, es flutet von der Decke durch die Gänge, es reflektiert und bricht, in manchen Winkeln schimmert es nur, in anderen gleißt es übernatürlich. Den Tieren ist es egal, sie sehen das Licht nicht mehr. Dabei hat das Schwein noch seine Augen. Dunkel funkeln sie in dem rosigen Kopf, es sieht so gesund aus, und fast ließe sich denken, es würde noch leben, aber ohne Körper ist das gar nicht möglich. Den Körper gibt es in kleinen Stücken oder in Scheiben oder auch als Gehacktes. Schön soll es aussehen, frisch und in satter Farbe, nur glänzen soll es nicht, da haben die Kunden kein gutes Gefühl.
Wenn Harold mag, darf er in der Mittagspause raus. Durch den Personalausgang, die kleine Treppe hinauf und dann durch den Hinterhof, in dem die Abfälle in grauen Containern wesen und der rauchenden Belegschaft die Sucht versüßen. Wenn möglich, versucht Harold diesen Ort zu meiden, nicht der streunenden Katzen und Ratten wegen, die, wenn sie sich unbeobachtet fühlen, aus den Ecken, Winkeln und Löchern kriechen, um sich am Halbverdorbenen zu sättigen, als vielmehr des Feindes wegen, der auf den Namen Carol hört.
Aus der Käseabteilung.
Ihre Theke ist nur zehn Meter Luftlinie von Harolds entfernt, und manchmal trägt sie eine rosa Schleife im Haar, aber das ist nur Tarnung, ein Hinwegtäuschen über ihr wahres Ich, über das, was sich in Worten nicht beschreiben lässt und in der direkten Erfahrung mit Schmerz verbunden ist. Ihr Blick in Harolds Richtung sagt recht eindeutig: Massenmörder. Wahlweise hebräischer Siedler. Harold jagt sie damit Angst ein. So wie am ersten Tag, als sie ihm zur Begrüßung die Hand zerquetschte und Süßholz raspelnd sagte: »Du überlebst hier keine Woche.« Anfangs hatte Harold noch mit der gnadenlosen Vorstellung geliebäugelt, dass Carol auf dem Weg zur Arbeit von einem Laster überfahren wird. Mittlerweile weiß er, dass es sehr viel wahrscheinlicher ist, dass Carol einen Laster überfährt. Warum Carol sich so festgebissen hat, weiß Harold nicht. Vielleicht ist sie als Kind mehrfach vergewaltigt worden, von ihrem Vater oder ihrem Bruder oder von beiden. Und vielleicht sieht Harold dem Vater oder dem Bruder ähnlich. Sie hat es ihm nie gesagt.
In zehn Minuten ist der Termin bei Mr. Hopkins. Carol weiß das. Sie hat über 50 Post-its beschrieben, die an der Theke, den Schränken, der Spüle, den Beilen, Messern und Scheren kleben. Toi, toi, toi, Hals- und Beinbruch, Die Zeit heilt alle Wunden. In ein roséfarbenes Kuvert neben der Waage hat sie ein Foto gelegt. Eine Aufnahme, die in detailreicher Auflösung und weichen Lichtsäumen Carol zeigt, wie sie einer Taube den Hals umdreht, wenngleich nicht ganz zu erkennen ist, ob die Taube schon vorher tot war, aber wahrscheinlich eher nicht.
Harold ist nicht sicher, was Mr. Hopkins von ihm möchte, Mr. Hopkins redet im Allgemeinen nur sehr ungern mit seinen Angestellten. Das letzte Mal hat er Harold vor sieben Jahren zu einem Gespräch hochgebeten. Damals ging es um die Verunreinigungen auf der Herrentoilette, die für großes Aufregen gesorgt hatten. Jemand schrieb mit schwarzem Filz auf allen Türen »Hier verdaut das Schweinesystem«. Harold war zwar in der engeren Wahl der Denunzierten, hatte aber letztendlich bei Mr. Hopkins den Eindruck erweckt, in solch subversiven Abenteuern keine Befriedigung zu finden. Darüber hatte Harold allerdings nie nachgedacht, über Abenteuer und über Toiletten im Allgemeinen. Wenn Harold könnte, würde er es abschaffen, das Denken, er würde nur noch da sein, weder Schicksal noch Zufall und ganz gleich, ob am Ende Primeln oder Stiefmütterchen verwelken. Harold hat nie verstanden, warum so viel Wert auf goldene Griffe und eine bordeauxrote Lackierung gelegt wird, ansonsten ist die Kiste ja aus Holz.
2
»Harold, was ist der Sinn Ihres Lebens?«
Mr. Hopkins ist ein Mann von kleinem Wuchs und großem Appetit, der sein Resthaar linksscheitelnd kämmt. Hinter seinem massiven Schreibtisch aus seltenen Wäldern wirkt er immer ein wenig verloren, aber von der Belegschaft ist noch niemand auf die Idee gekommen, dies als Schwäche zu interpretieren. In seinen wässrig blauen Augen liegt Erwartung, die Brauen sind unnatürlich zueinander gezogen und wecken beim Betrachter, also Harold, Instinkte der Unterwerfung.
»Das Leben, Harold, das Leben hält viele Überraschungen parat. Oft sind es die kleinen und großen Veränderungen, die das Leben erst in die richtigen Bahnen lenkt. Manchmal versteht man nicht sogleich, welche Chancen sich daraus ergeben, dass sich Türen schließen, andere aber dafür öffnen.«
Harold versucht sich zu konzentrieren, den Worten und was sie bedeuten zu folgen. Eine Frau, vielleicht um die vierzig, und ein junges Mädchen blicken Harold von dem Sideboard hinter Mr. Hopkins’ Schreibtisch aus an. Sie sind in Messing gerahmt, sie sind weder hübsch noch hässlich, sie haben sich zurechtgemacht für das Foto, sie versuchen zu lächeln, aber wahrscheinlich war es noch zu früh am Morgen oder die Milch war um.
»Gestern erst hat meine Frau zu mir gesagt, Harry Hopkins, hat sie gesagt, du musst dir endlich eine neue Frisur zulegen.«
Eine Taube nistet auf dem Fenstersims, ihr Gurren ist durch die doppeltverglasten Scheiben zu hören, sie putzt sich die Flügel, blickt für einen Moment neugierig in das Büro, doch ein dumpfes Donnergrollen lenkt ihre Konzentration wieder in die Ferne. Mr. Hopkins nestelt am Knoten seiner Krawatte, er blättert in seinen Unterlagen, er sucht etwas, er hat es gefunden, er blickt wieder auf, der Regen setzt ein und schwere Tropfen platschen gegen die Scheiben.
»Um mal auf den Punkt zu kommen, mein lieber Harold: Sie sind gestern von Kopf bis Fuß mit Rinderblut versehen wieder an Ihre Theke gegangen und wollten weiter bedienen. Ich gehe zwar davon aus, dass Sie sich nicht selbst mit einem Eimer Rinderblut überschüttet haben, doch Sie hätten in diesem Zustand unter keinen Umständen weiter bedienen dürfen. Sie hätten sich erst reinigen müssen!«
Dafür hatte Harold aber keine Zeit. Die Pause war schon vorbei. Und die Pausenzeiten dürfen nicht überzogen werden, da gibt es eindeutige Vorschriften, das ist überall nachzulesen, in der Kantine, am schwarzen Brett, im Personalbüro und in den Umkleideräumen.
»Ich habe heute den Anruf einer Mutter entgegennehmen müssen.«
Oh.
»Sie lässt eine Klageschrift vorbereiten.«
Oh.
»Ihre beiden Kinder, sieben und neun Jahre alt, haben alles mit ansehen müssen.«
Oh.
»Sie müssen in psychiatrische