Harold. Einzlkind

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Harold - Einzlkind

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auf den asphaltierten Wegen Fußball oder Hooligans, und im Winter sind die Laternen manchmal den ganzen Tag an, weil sonst niemand mehr nach Hause finden würde. Lenny Ferguson gehört der schwarze Aston Martin, der Stolz des ganzen Viertels, mit einer eigenen Parkbucht vor Pauls Pharmacy, da sieht man ihn sofort, auch wegen des roten Hydranten. Was genau Lenny Ferguson macht, weiß man nicht, es muss aber etwas mit An- und Verkauf zu tun haben, da er Harold immer mit den gleichen drei Worten begrüßt: »Haschisch, Trips, Erdnussflips.«

      Mrs. Cardigan hält nicht viel von Lenny Ferguson, sie sagt, er sei eine zwielichtige Gestalt, genauso wie Hicham Annani, dem das kleine Gemüse-Imperium drei Häuser weiter gehört und dessen Waage mindestens 100 Gramm falsch gehe, insbesondere bei Steinpilzen. Für Harold ist dieser Umstand jedoch wenig von Bedeutung, da er als Achtjähriger beinahe an einer Pilzvergiftung gestorben wäre und er den Vorgang des Magenauspumpens, bei aller Wertschätzung für die technische Umsetzung, mit keinerlei positiven Empfindungen verbinden kann.

      Das Viertel aber gilt als relativ sicher, es sei denn, die Jugendgangs führen ihre Pitbulls aus oder der Premierminister kommt zu Besuch. So wie vor vier Jahren, als die heiße Phase des Wahlkampfs in ihren letzten Wehen lag und alles abgesperrt war, für die dunklen Limousinen und die ganzen Kamerateams, und ein Helikopter über den Dächern kreiste und Mrs. Cardigan ihr bestes Kostüm angezogen hatte und es Kebab mit Salat gab. Von überall her waren die Menschen gekommen, Stunden vorher hatten sie um die besten Plätze gekämpft, um ihre Fähnchen zu schwenken und vielleicht sogar den Premierminister berühren zu können, dieses eine Mal, die Macht zu spüren, dieses eine Mal, um in fünfzig Jahren den Enkelkindern davon erzählen zu können. Und groß war der Jubel, als der Ernstfall eintrat und der Premierminister aus seiner Limousine stieg und ein Stück des Weges zu Fuß erarbeitete, um Blumen zu empfangen, Hände zu schütteln, dem Volk ganz nahe zu sein.

      Auch Mrs. Cardigan hätte ihm gerne die Hand geschüttelt, wenngleich sie ihn hinterrücks als Dorftrottel mit dem Charme einer Sardinenbüchse bezeichnete. Rouge hatte sie aufgetragen, mehr als sonst, und eine weiße Nelke in ihr graues, zu einem Dutt geschwungenes Haar gesteckt. Doch der Premierminister hielt ausgerechnet vor Bradleys Friseursalon an, wo Lenny Ferguson sich mit körperlich fragwürdigem Einsatz in die erste Reihe komplimentiert hatte und den Moment kommen sah, sein aufstrebendes Kleingewerbe der breiten Masse bekannt zu machen und neue Käuferschichten zu erschließen. Lenny Ferguson, der Anlageberater der Genussmittelindustrie, Grandmaster Flash feinster Waren aus Holland, Nepal und Afghanistan, multilingual, Gucci, Dolce und Gabbana. Eine kaufkräftige Klientel zog vor seinen kurzsichtigen Augen auf, klopfte an seine Tür, morgens, mittags, abends, ein Kommen und Gehen wie im Zoo und er, Lenny Ferguson, war die große Attraktion, der Bill Gates unter den Orang Utans. Im Nebel der rosigen Zukunft tat er seinen Werbeslogan kund, aber der Premierminister schien kein Interesse an Erdnussflips zu haben, ganz im Gegenteil, er wandte sich mit fragendem Blick an seine Berater, die wiederum die Sicherheitskräfte von der Leine ließen, die wiederum Lenny Ferguson unsanft zur Seite schubsten, woraufhin ein kleiner Tumult entstand und Lenny Ferguson, ein Kämpfer vor dem Herrn, mehrfach mit seiner Nase auf die Fingerknöchel der großen Männer in den dunklen Anzügen schlug. Die Fotografen waren schier aus dem Häuschen, und am nächsten Tag war nicht der Premierminister auf der Titelseite der Sun zu sehen, es war Lenny Ferguson, wie er in den Absperrgittern lag und das Blut aus seiner Nase tropfte, das linke Auge schon ein wenig angeschwollen, aber für das Foto noch das Lächeln eines Siegers zaubernd. Die Schlagzeile lautete: »Willkommen an der Heimatfront!«

      Seither gibt es im Viertel keine Politikerbesuche mehr, und Harold nimmt diesen Umstand mit einer gewissen Erleichterung wahr, sind ihm doch von klein auf das Laute und die Masse stets suspekt gewesen, und daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert, ganz im Gegenteil. Der Mensch an sich ist ihm keine große Belastung, aber schon eine Gruppe von mehr als drei an der Zahl bereitet ihm ein Unbehagen, das er gar nicht näher zu definieren weiß, es ist nur so ein Gefühl, in der Magengegend, zwischen Leber und Milz vielleicht, und tränke er Alkohol, wäre er vor jeder Busfahrt und vor jedem Einkauf sturzbetrunken, aber er trinkt keinen Alkohol mehr, seit man ihn bei einer Betriebsfeier vor zwölf Jahren dazu nötigte und er infolgedessen auf dem Heimweg gegen jeden auffindbaren Laternenmast stieß, zweimal über einen Hydranten fiel und, als er dann endlich mit dreistündiger Verspätung zuhause ankam, sich so oft übergab, dass es ihm wie ein Wunder vorkam, überhaupt noch am Leben zu sein.

      Dies mag vielleicht auch der Grund dafür sein, warum Harold im Großen und Ganzen nicht in der Stimmung für eine Partie Bridge ist, was aber wenig von Bedeutung ist, da Harold nie in der Stimmung für eine Partie Bridge ist. Harold wurde einberufen, als Walter Mayhew der Gesellschaft vor einem Jahr davonstarb und aus dem Bekanntenkreis der illustren Runde mit Mrs. Davenpot, Mrs. Merrythought und Mrs. Cardigan kein adäquater Ersatz rekrutiert werden konnte. Harold wird in guten Momenten als endgültige Zwischenlösung toleriert, in schlechten als Prüfung Gottes angesehen. Dabei ist Bridge ein Spiel, von dem Harold weiß, dass es mit Karten zu tun hat, derweil ihm Strategie, Farben und Zählweise stets ein ähnliches Mysterium sind wie das Alte Testament, in dem er in jungen Jahren einmal pflichtlektürend blätterte und aus dem einzig Ezechiel in mahnender Erinnerung sein Bewusstsein trübt, insbesondere sonntags.

      Das Spiegelbild im Bad mahnt zur Erfrischung, die Haare müssen neu gescheitelt und ein frisches Hemd übergezogen werden. Weiß oder blau? Harold besitzt vier weiße und vier blaue Hemden, die er seit über zwanzig Jahren bei Herb’s Herrenbekleidung kauft, einem kleinen Laden in der Warwick Street, in dem Harold noch nie einem anderen Kunden begegnet ist. Das grüne Hemd, das er einst von Mrs. Cardigan zum Geburtstag geschenkt bekam, trägt er nur auf Beerdigungen, warum, weiß er auch nicht, es hat sich so ergeben. Mode ist für Harold nur ein Wort aus den Zeitungen, deren Visualisierungen ihn weniger inspirieren, als vielmehr zutiefst verwirren und ihn jedes Mal ratlos zurücklassen, wenn sein brauner Cordanzug alle fünf Jahre für schick erklärt wird und die Bevölkerung ihn einige Monate für einen aufgeschlossenen Intellektuellen hält.

      In zehn Minuten ist Spielbeginn, diesmal bei Mrs. Merrythought, zwei Häuserblöcke weiter, Parterre links und unschwer zu verfehlen, da in dem Küchenfenster zur Straße hin ein Engel leuchtet, Tag und Nacht, selbst wenn die Sicherungen rausfliegen, denn der Engel ist mit zwölf Volt batteriebetrieben.

      6

      Als Mrs. Merrythought die Tür öffnet, begrüßt sie Harold mit einem »Herrje«. Sie macht auf dem Absatz kehrt und geht wieder in den Raum, aus dem sie gekommen ist. Der zweite Fußabtreter im Haus ist eigentlich noch wichtiger als der erste vor dem Haus. Harold weiß das und putzt sich seine Schuhe am »Willkommen« sauber. Er hängt seinen Mantel auf den Kleiderbügel, der, aus Echtholz und mit Lack behandelt, weit mehr einem Relikt als einem Gebrauchsgegenstand ähnelt. Jetzt muss Harold nur noch die Füße bewegen, er muss gehen, vorwärts, und sei es auch in eine ungewisse Zukunft, die am Ende auf ihn wartet und in der alles passieren kann, wie zum Beispiel, dass eine Linienmaschine ins Haus stürzt, weil ein Pelikan sich verrechnet hat und es nie wieder Tag wird.

      Der lang gezogene Flur ist mit gerahmten Fotos der letzten fünfzig Jahre überzogen, die alle Mrs. Merrythought zeigen, wie sie Kaffee trinkt. Auf dem größten Foto aus den Sechzigern, links über dem Telefontisch, trägt sie Lockenwickler und sieht ein wenig aus wie Grace Kelly, zumindest hat ihr ein längst verblichener Verehrer dies in einem romantischen Moment ins Ohr geflüstert, und seitdem ist das Foto auch mit einem dezenten Oberlicht Tag und Nacht beleuchtet.

      Der letzte Schritt in die Schaltstelle des Vergnügens fällt Harold wie immer schwer, es ist, als hätten ihm italienische Männer mit dunklen Sonnenbrillen und groben Händen Beton um die Füße gegossen. In der Mitte des burgunderroten Wohnzimmers steht ein runder Tisch mit vier Stühlen, von denen einer noch frei ist. Auf den anderen sitzen die drei Damen im späten Alter, friedlich, wie es trügerisch den Anschein erweckt, als wäre es ein nettes Beisammensein. Ein elektrischer Kronleuchter bündelt ein gleißendes Licht über dem Spieltisch, der Heißgetränke und Selbstgebackenes auf feiner Häkelware darbietet. Die Karten sind schon ausgeteilt. Harold setzt sich auf den noch freien Stuhl,

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