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»Es ist gegen die Regeln, Harold zu sagen, welche Karte er spielen soll.«
»Ist das so? Wärst du dann so gütig, mir die Stelle im Regelwerk zu zeigen, in der es heißt: Es ist verboten, Harold zu sagen, welche Karte er spielen soll.«
»Anderen Spielern.«
»Harold ist kein Spieler. Harold hält Karten.«
7
Harold durfte früher gehen. Das Spiel ist wieder einmal, wie es Mrs. Cardigan formulierte, an ihm vorbei gelaufen, mehrmals und ohne sich umzudrehen. Wer auch immer mit Harold in einem Team war, verlor, in der Regel hochhaushoch. Harold macht sich nichts aus Niederlagen, Eigenschaften wie Ambition und Ehrgeiz hat er nie entwickeln können, schon gar nicht für ein Kartenspiel, von dem er immer annahm, dass es dem Zeitvertrieb diene, wenngleich ihm die Zeit beim Spiel immer endlos lang vorkommt. Auf dem Heimweg hat er nur daran gedacht, dass er pünktlich zuhause sein würde, und das stimmte ihn frohgemut, denn auf BBC sollte nach Jahren der Entbehrung wieder Frühstück bei Tiffany laufen. Einer seiner drei Lieblingsfilme, für immer und ewig, zeitlos und unantastbar. Harold verehrt Audrey Hepburn, aber noch mehr liebt er Holly Golightly für die Unendlichkeit in ihren Augen und die Art und Weise, wie sie ein Cocktailglas in ihren zierlichen Händen zu halten versteht. Er hat den Fernseher eingeschaltet, einen Earl Grey aufgegossen und das Stück Erdbeertorte, das Mrs. Merrythought ihm für daheim mitgegeben hat, auf einem weißen Kuchenteller nebst Gabel drapiert. Er ist beinahe glücklich. Er hat gar nicht mitbekommen, dass Kempowski mit hineinhuschte, als er die Tür aufschloss.
Ein wenig lebt es noch. Das Geschenk. Es ist das dritte diese Woche. Die winzigen Gedärme hängen schon halb heraus, das linke Ohr ist als solches nicht mehr zu erkennen, ein zerfetztes Etwas, es wird damit nicht mehr hören können. Haben Sie Schmerzen? Die Augen sondern eine milchige Flüssigkeit ab, als wolle sich alles entleeren. Die seltenen Atemzüge lassen den Brustkorb vibrieren, der selbst als Schlachtabfall keine gute Figur mehr macht. Am Morgen hat es wahrscheinlich noch gespielt. Sind Sie öfters müde? Die Chance, noch einmal zu entkommen, ist geringer, als von einem Nylonfaden erschlagen zu werden. Es sind die letzten Augenblicke in dieser Welt, und es weiß Bescheid, es fiept nicht einmal mehr, Abschied nehmen. Rufen Sie uns an.
Die Tasse in Harolds Händen dampft den noch immer heißen Tee in den Raum, ein Ort nun der Folter, professionell und routiniert, jeder Griff ein Kunststück. Harold schaut Kempowski an. Er leckt sich die rechte Pfote, an der etwas hängt, von der etwas tropft. Jetzt noch besser! In seinen Augen schimmert Gleichmut, fast so etwas wie Mitleid, er macht nur seinen Job, das muss es verstehen. Es kann sich nicht mehr bewegen, es kann nur noch da sein. Mehr Glanz für die Haare. Harold nimmt seinen rechten Hausschuh, von Tesco, Kunstleder, harte Sohle. Es sind zwei Schritte, Kempowski macht einen kleinen Sprung zur Seite, zeigt sich aber interessiert. Das ist der Sound der Siebziger. Harold holt aus und blickt ein letztes Mal in seine Augen, er muss schlucken, ein Rest von Erdbeergelee schmeckt sich durch, es ist wohl besser so.
Laut ist es, und was übrig bleibt, kann sich nicht mehr sehen lassen und muss entsorgt werden. Und jetzt unser Abendspielfilm. Kempowski folgt Harold auf dem Weg zum Mülleimer, er reibt sich an seinen Beinen und fängt an, wie eine Taube zu gurren. Dabei ist Kempowski alles andere als eine Taube, und mit dem, was er jedes Mal nach seinen Beutezügen anschleppt, könnte Harold erfolgreich einen Tierfriedhof bewirtschaften. Und eigentlich mag Harold auch keine Katzen, aber Kempowski ist der Kater von Mrs. Cardigan, der ihm vor vier Jahren auf dem Weg zum Supermarkt in die Speichen lief und seither eine animalische Zuneigung an den Tag legt, die Harold immer wieder aufs Neue ratlos zurücklässt.
Es klingelt.
Es ist die Türklingel.
Eigentlich unmöglich. Es kann sich nur um ein Versehen handeln. Vielleicht Kinder, deren Beschäftigung Spaß ist. Harold sitzt in seinem Sessel, Holly Golightly verstummt für einen kurzen Moment, er ist verwirrt, er lauscht und hört eine Stimme. Direkt hinter der Wohnungstür.
Es klingelt erneut. Harold steht auf, noch unsicher, ob er sich das alles nicht nur einbildet. Warum nur steht jemand zu dieser Uhrzeit vor seiner Tür und erwartet, dass er diese aufmacht? Er blinzelt durch den Spion und schreckt zurück, weil von der anderen Seite ebenfalls jemand durch den Spion blinzelt. Dieser jemand hat jetzt gesehen, dass Harold zuhause ist, es wäre unhöflich, wenn er nicht öffnen würde. Er drückt die Klinke vorsichtig runter und öffnet die Tür zur Hälfte.
»Hallo«, sagt eine junge Frau. Vielleicht dreißig, schwer zu sagen, sie sieht wahrscheinlich gut aus, modern gekleidet und mit langen dunklen Haaren, die in einem Pferdeschwanz gehalten werden. Neben ihr steht ein kleiner Junge, der sich die Brille auf der Nase zurechtrückt.
»Hallo«, wiederholt die junge Frau, »ich bin Denise Bentham und das ist Melvin.«
Harold blickt Denise Bentham und danach Melvin an. Ihm ist nicht wohl.
»Wir sind ihre neuen Nachbarn.«
Harold überlegt, ob er nun wieder die Tür schließen kann oder ob er noch weitere Informationen empfangen muss.
»Es ist mir ein bisschen unangenehm ...«, sagt Denise Bentham.
Harold ist nicht wohl.
»Ich bin da gerade in einer sehr kniffligen Lage und Mrs. Cardigan meinte, dass Sie momentan arbeitslos sind und, nun ja, ein wenig Zeit haben. Wissen Sie, Zeit ist momentan das kleine Problem, das ich habe.«
Harold ist nicht wohl.
»Nun, um es kurz zu machen, Melvins Vater ist unbekannt und seine Großeltern sind tot. Lungenkrebs. Beide. Sie haben bis zum Schluss vierzig Zigaretten täglich geraucht, aber sie haben nicht mehr viel gespürt, das Morphium hat ganze Arbeit geleistet.«
Harold ist nicht wohl.
»Wir leben erst seit zwei Wochen in der Stadt, wir kennen noch niemanden. Sehen Sie, ich habe hier einen Job angenommen, einen sehr guten, in der Werbebranche. Und jetzt gibt es da eine klitzekleine Unstimmigkeit mit einem Kunden und ich müsste für eine Woche nach Frankreich, Toulouse, um genau zu sein.«
Harold ist nicht wohl.
»Wissen Sie, ich habe bei der Einstellung ein bisschen geflunkert, also ich habe nicht explizit meinen Sohn erwähnt. Voraussetzungen für die Stelle waren nämlich Eigenschaften wie ungebunden, unabhängig und zeitlich äußerst flexibel. Melvin ist wirklich ein lieber Junge.«
Harold ist gar nicht wohl.
»Im Grunde würde es schon reichen, wenn man sich nach der Schule zwei bis drei Stunden mit ihm beschäftigt. Das heißt, sehr viel wahrscheinlicher wird Melvin Sie beschäftigen, er redet sehr gerne und sehr viel. Lassen Sie ihm nicht alles durchgehen, seien Sie ruhig auch mal streng.«
Harold ist mehr als gar nicht wohl.
»Melvin hat meistens bis halb vier Unterricht und ist so gegen sechzehn Uhr zuhause. Das heißt, er würde dann bei Ihnen klingeln. Mittagessen gibt es in der Schule, abends mag er nur ein Glas Sojamilch. Das macht er seit sechs Jahren so, er will nichts anderes, ich habe schon alles versucht, keine Chance. Im Grunde ist alles da, was Melvin braucht, aber falls Sie mal mit ihm ein Eis essen oder ins Kino gehen wollen, habe ich noch 100 Pfund dagelassen,