Harold. Einzlkind

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Harold - Einzlkind

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versucht, auf seine Schuhe zu starren, keine drei Jahre alt, braunes Wildleder, an den vorstehenden Nähten schon ein wenig mitgenommen, sonst aber sehr schön.

      Nächster Halt Chepstow Road.

      Im hinteren Teil schreit ein Säugling neue Zähne herbei und hat Glück, dass die Kindstötung gesetzlich verboten ist. »Warum eigentlich?«, fragt ein grüner Aufkleber neben dem Notschlaghammer. Häuserblöcke fliegen im dichten Regen vorbei, ein unscharfes Foto als Erinnerung, es bleibt nichts, nur alles in Bewegung, und immer diese Veränderungen.

      Der Morgen hatte noch recht angenehm begonnen, kein Ausrutschen der Rasierklinge, der Kaffee in einem exzellenten Verhältnis zwischen Wasser und Bohnen, und der Rottweiler von Mr. Rooney lag mit einer Magenkolik danieder. Harold war ein Springbrunnen der guten Laune und beinahe hätte er sogar gelächelt.

      »Haben Sie ein Problem mit Drogen?«, fragt ein gelber Aufkleber mit schwarzer Schrift und einer Telefonnummer am rechten unteren Rand. Eigentlich nicht.

      Nächster Halt Westbourne Park.

      Aussteigen. Aussteigen? Theoretisch ist es unmöglich, dass der Bus in den letzten zehn Minuten voller geworden ist, praktisch schon. Noch zweihundert Meter. Harold blickt nach links und rechts, er steht genau in der Mitte von zwei Türen, es gibt keinen langen oder kurzen Weg, es gibt gar keinen Weg. Noch hundert Meter. Jede weitere Station bedeutet einen zusätzlichen Fußmarsch von zehn Minuten, und was, wenn es erst an der Endstation einen Ausweg gibt? Noch fünfzig Meter. Es gibt kein Leben nach dem Tod, und wenn doch, hätte Harold gerne Flügel. Der Bus hält und die Türen gehen auf. In dem Moment setzt sich ein Mann mit dem Bauchumfang einer Waschmaschine keine zwei Meter von Harold entfernt in Bewegung und schlägt wie ein russisches Rollkommando eine Schneise in die Menge. Harold klemmt sich geistesgegenwärtig in seinen Schatten und ist überrascht, als er plötzlich auf der Straße steht und wieder atmen kann. Der Regen empfängt Harold wie einen alten Freund, voller Zuneigung und etwas unbeholfen im Überschwang der Gefühle. Harold spannt die Reste seines Schirmes auf, in fünf Minuten ist er zuhause, und wenn er Glück hat, steht das Dach noch auf dem kleinen Gebäude an der Golborne Road. Aber sicher kann man da ja nie sein.

      4

      Ein Galgenknoten ist weit weniger schwer zu knüpfen, als er aussieht. Amateure begehen schon bei der Wahl des Strickes die ersten Fehler. Ein zu dünner Strick schneidet sich viel zu schnell in die Haut ein, ein zu dicker Strick sieht nicht schön aus. Harold ist Profi, und seine Strickware ist stets von bester Qualität, er kauft sie ausschließlich in McCormicks Kleinwarenladen, schottische Wertarbeit, die im Königreich ihresgleichen sucht, und das vergebens. Er hat sich nur flugs umgezogen, da Pfützen im Treppenhaus nicht gerne gesehen werden. Selbst das Thunfisch-Sandwich, das er nach Feierabend mit einem Glas Milch zu sich nimmt, hat er nur zur Hälfte gegessen, der Magen wollte nicht, der Geist noch sehr viel weniger, die Unruhe muss besänftigt werden, sie fordert ihren Lohn.

      »Hallo Harold, wie geht’s«, fragt Abraham Sinclair und klimmt mit seiner Gehhilfe die ersten beiden Stufen zu seinem Apartment im ersten Stock empor. Abraham Sinclair ist 84. Er ist so gut wie blind, er ist entschuldigt. Es hätte ja auch durchaus sein können, dass Harold hier oben nur eine Glühbirne austauscht, der Verbrauch im Treppenhaus ist ungewöhnlich hoch, irgendein Problem mit der Elektrik, über die Harold aber nicht sehr gut Bescheid weiß, die Elektrik ist ihm von Kindheit an ein Mysterium. Doch plötzlich dreht sich Abraham Sinclair noch einmal um, ihm ist noch etwas eingefallen, etwas Ungewöhnliches, das er mitzuteilen gedenkt.

      »Ich habe gestern zweimal masturbiert. Normalerweise masturbiere ich nur einmal im Monat, aber im Fernsehen lief eine Wiederholung von Dallas. Mit Pamela Ewing. Ich weiß nicht, wie Pamela Ewing in Wirklichkeit heißt, aber das ist auch nicht so wichtig. Wichtig ist, dass sie duscht.« Ohne eine Antwort abzuwarten, nimmt er die restlichen Stufen hinauf, und keine zehn Minuten später hört Harold, wie Abraham Sinclair seine Wohnungstür erreicht und schon mit dem zweiten Versuch den Schlüssel in das Schloss bekommt.

      Harold sieht kaum noch eine Chance auf ein anspruchsvolleres Publikum, als die Haustür ein weiteres Mal aufgeht. Es ist Mrs. Cardigan aus der Zweiten. Sie war einkaufen und verzettelt sich mit ihren Besorgungen an der halb offenen Briefkastentür der Frymont-Familie. Sie blickt zu ihm hinauf und sagt: »Oh, Harold, können Sie sich nicht mal abhängen und einer alten Frau behilflich sein?«

      Er würdigt sie keines Blickes. Bridge-Partnerin hin, Bridge-Partnerin her. Harold erhängt sich höchstens einmal im Monat, in der ersten Hälfte, nie dienstags, aber vor 21 Uhr. Da ist ein bisschen Feingefühl doch nicht zu viel verlangt. Oder? Ein letztes Röcheln, der Moment kurz vor der Besinnungslosigkeit, wenn der Sauerstoff keine Wege mehr findet, wenn die Sicht erst trübe wird und sich dann alles verdunkelt.

      »Harold, wenn Sie mit dem Aufhängen fertig sind, sollten Sie sich schon mal frisch machen, in zwei Stunden treffen wir uns bei Emma Merrythought zum Bridge. Nicht, dass Sie wieder zu spät kommen.« Harold ist erst einmal zu spät gekommen, und das lag an den Homosexuellen, die auf der Abbey Road demonstrierten. Um was es genau ging, lässt sich ohne großen Aufwand kaum noch recherchieren. Der 21er aber musste einen Umweg durch die halbe Stadt machen, weil der Fahrer die Umleitungsschilder nicht lesen konnte. Ein Vorwurf war ihm nicht zu machen, er war ja noch ganz neu, aus Pakistan, und wahrscheinlich gibt es dort keine Umleitungsschilder. Mrs. Cardigan aber trägt Harold diese Verspätung heute noch nach, sie war es schließlich, die ihn in die Bridge-Runde eingeführt hat und es steht außer Frage, dass sie für ihn verantwortlich ist.

      Die Haustürklingel schrillt.

      Mrs. Cardigan, die immer noch am Eingang steht, öffnet die Tür. Es ist die Vertretung von Mr. Best, dem Postboten. Es ist eine junge Frau, Mitte zwanzig, mit einem blonden Pferdeschwanz und grünen Augen, die wie Murmeln glasig schimmern.

      Sie schreit.

      Sie schreit sehr laut. Und lässt die Briefe auf den Boden fallen, die eigentlich in die Kästen müssen. Dabei hat sie das letzte Röcheln gar nicht mitbekommen, Harold wiederholt es noch mal, das ist eine Selbstverständlichkeit, bei so viel Anteilnahme. Mrs. Cardigan schaut die junge Frau verwirrt an und fragt: »Was haben Sie denn?«

      »Der ... Mann ... oben ... Strick ... oh Gott …«

      »Das ist nur Harold.«

      Was soll das heißen: Das ist nur Harold? Er wiederholt das letzte Röcheln, legt aber ein wenig Empörung in das Timbre mit hinein. Die junge Frau schreit erneut, sie hat eine wundervoll hohe Stimme, die eine Gänsehaut verursacht, weil sie ohne Umwege direkt das zentrale Nervensystem erreicht. Mrs. Cardigan ist ein wenig ungehalten, sie mag keinen Lärm, grundsätzlich nicht. Sie macht einen Schritt auf die Postbotin zu und wirft ihr den bösen Blick entgegen. Die Postbotin macht den Fehler, die Ermahnung zu ignorieren und schreit erneut. Woraufhin Mrs. Cardigan die Nase der jungen Frau packt und zu sich hinunterzieht, sie ist höchstens 1 Meter 60.

      »Mein liebes Kind, wenn in diesem Haus etwas verboten ist, dann sind es Briefträger, die, anstatt die Postsendungen in die dafür vorgesehenen Kästen zu werfen, schreien, als würde man ihnen die Fingernägel einzeln ausreißen. Ich sagte doch bereits, das ist Harold. Er übt nur! Und jetzt heben Sie die Briefe schön wieder auf und erledigen ihren Job. Ist Post für mich dabei? Cardigan, Mrs. Cardigan.«

      5

      Als Harold vor siebzehn Jahren in das mittelprächtige Haus auf der Golborne Road eingezogen ist, war der Fliederstrauch vor dem Küchenfenster nur ein kleiner Farbtupfer. Mittlerweile schluckt er im Frühling alle Sonnenstrahlen und streckt seine Zweige bis hoch in die erste Etage, wo Abraham Sinclair immer Dallas guckt. Es ist eine ruhige Gegend, nahezu Mittelschicht, mit einer Ausländerquote leicht über dem Durchschnitt, weshalb an

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