Der Untertan – Entwicklungsroman eines Obrigkeitshörigen. Heinrich Mann

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Der Untertan – Entwicklungsroman eines Obrigkeitshörigen - Heinrich Mann

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sittlichen Rechten der bürgerlichen Welt, trug er sein düsteres Geschick; eines Morgens aber, als alle Hoffnung schon dahin war, holte man ihn vom Exerzieren weg auf das Zimmer des Oberstabsarztes. Dieser hohe Vorgesetzte wünschte ihn zu untersuchen. Er hatte einen verlegen menschlichen Ton und schlug dann wieder in militärische Schroffheit um, die gleichfalls nicht unbefangen wirkte. Auch er schien nichts Rechtes zu finden, das Ergebnis seines Eingreifens aber klang trotzdem anders.

      Diederich sollte nur ›vorläufig‹ weiter Dienst machen, das weitere werde sich schon ergeben. »Bei dem Fuß…«

      Einige Tage später trat ein ›Revier‹gehilfe an Diederich heran und fertigte auf geschwärztem Papier einen Abdruck des verhängnisvollen Fußes. Diederich ward genötigt, im Revierzimmer zu warten. Der Stabsarzt ging eben umher und nahm Gelegenheit, ihm seine volle Verachtung auszudrücken. »Nicht mal Plattfuß! Stinkt vor Faulheit!« Da aber ward die Tür aufgestoßen, und der Oberstabsarzt, die Mütze auf dem Kopf, hielt seinen Einzug. Sein Schritt war fester und zielbewusster als sonst, er sah nicht rechts noch links, wortlos stellte er sich vor seinem Untergebenen auf, den Blick finster und streng auf dessen Mütze. Der Stabsarzt stutzte, er musste sich in eine Lage finden, die ersichtlich die gewohnte Kollegialität nicht mehr zuließ. Nun hatte er sie erfasst, nahm die Mütze herunter und stand stramm. Darauf zeigte der Vorgesetzte ihm das Papier mit dem Fuß, sprach leise und mit einer Betonung, die ihm befahl, etwas zu sehen, was nicht da war. Der Stabsarzt blinzelte abwechselnd den Vorgesetzten, Diederich und das Papier an. Dann zog er die Absätze zusammen: er hatte das Befohlene gesehen.

      Als der Oberstabsarzt fort war, näherte der Stabsarzt sich Diederich. Höflich, mit einem leisen Lächeln des Einverständnisses, sagte er:

      »Der Fall war natürlich von Anfang an klar. Man musste nur der Leute wegen –. Sie verstehen, die Disziplin –.«

      Diederich bekundete durch Strammstehen, dass er alles verstehe.

      »Aber«, wiederholte der Stabsarzt, »ich habe natürlich gewusst, wie Ihr Fall lag.«

      Diederich dachte: »Wenn du es nicht gewusst hast, jetzt weißt du es.« Laut sagte er:

      »Gestatte mir gehorsamst zu fragen, Herr Stabsarzt: Ich werde doch weiterdienen dürfen?«

      »Dafür kann ich Ihnen nicht garantieren«, sagte der Stabsarzt und machte kehrt.

      Von schwerem Dienst war Diederich fortan befreit, das ›Gelände‹ sah ihn nicht mehr. Um so williger und freudiger war sein Verhalten in der Kaserne. Wenn des Abends beim Appell der Hauptmann, die Zigarre im Mund und leicht angetrunken, aus dem Kasino kam, um für Stiefel, die nicht geschmiert, sondern gewichst waren, Mittelarrest zu verhängen: an Diederich fand er nichts auszusetzen. Um so unerbittlicher übte er seine gerechte Strenge an einem Einjährigen, der nun schon im dritten Monat strafweise im Mannschaftszimmer schlafen musste, weil er einst, während der ersten vierzehn Tage, nicht dort, sondern zu Hause geschlafen hatte. Er hatte damals vierzig Grad Fieber gehabt und wäre, wenn er seine Pflicht getan hätte, vielleicht gestorben. Dann wäre er eben gestorben! Der Hauptmann hatte, sooft er diesen Einjährigen ansah, ein Gesicht voll stolzer Genugtuung. Diederich dahinten, klein und unversehrt, dachte: »Siehst du wohl? Die Neu-Teutonia und ein Geheimer Sanitätsrat sind mehr wert als vierzig Grad Fieber…« Was Diederich betraf, so waren die amtlichen Formalitäten eines Tages glücklich erfüllt, und der Unteroffizier Vanselow verkündete ihm seine Entlassung. Diederich hatte sofort die Augen voll Tränen; er drückte Vanselow warm die Hand.

      »Gerade muss mir das passieren, und ich hatte doch« – er schluchzte – »so viel Freudigkeit.«

      Und dann war er ›draußen‹.

      Vier Wochen lang blieb er zu Hause und büffelte. Wenn er zum Essen ging, sah er sich um, ob ein Bekannter ihn bemerkte. Endlich musste er sich den Neu-Teutonen wohl zeigen. Er trat herausfordernd auf.

      »Wer von euch noch nicht dabei war, hat keine Ahnung. Ich sage euch, da sieht man die Welt von einem anderen Standpunkt. Ich wäre überhaupt dabei geblieben, meine Vorgesetzten rieten es mir, ich sei hervorragend qualifiziert. Na und da –«

      Er starrte schmerzlich vor sich hin.

      »Das Unglück mit dem Gaul. Das kommt davon, wenn man ein zu guter Soldat ist. Der Hauptmann lässt einen in seinem Dogcart fahren, damit der Gaul mal bewegt wird, und da ist das Unglück passiert. Natürlich habe ich den Fuß nicht geschont und zu früh wieder Dienst gemacht. Die Sache verschlimmerte sich erheblich, der Stabsarzt gab mir anheim, für jede Eventualität meine Angehörigen zu benachrichtigen.«

      Dies sagte er knapp und männlich.

      »Da hättet ihr nun den Hauptmann sehen sollen. Täglich kam er selbst, nach den größten Märschen, mit bestaubter Uniform, wie er war. So was gibt es auch nur beim Militär. Wir sind in den bösen Tagen wahre Kameraden geworden. Hier die Zigarre ist noch von ihm. Und als er mir dann eingestehen musste, der Stabsarzt wolle mich fortschicken, ich kann euch versichern, das war einer der Augenblicke im Leben, die man nicht vergisst. Der Hauptmann und ich, wir kriegten beide gleichzeitig feuchte Augen.«

      Alle waren erschüttert. Diederich sah tapfer um sich.

      »Na, jetzt soll man sich also wieder in das bürgerliche Leben hineinfinden. Prost.«

      Er büffelte weiter; und am Sonnabend kneipte er mit den Neu-Teutonen. Auch Wiebel erschien wieder. Er war Assessor, auf dem Wege zum Staatsanwalt und sprach nur noch von »subversiven Tendenzen«, »Vaterlandsfeinden« und auch vom »christlich-sozialen Gedanken«. Er erklärte den Füchsen, es sei an der Zeit, sich mit Politik zu beschäftigen. Er wisse wohl, dass es nicht für vornehm gelte, aber die Gegner zwängen einen dazu. Hochfeudale Herren, wie sein Freund, der Assessor von Barnim, seien in der Bewegung. Herr von Barnim werde demnächst den Neu-Teutonen die Ehre geben.

      Er kam, und er gewann alle Herzen, denn er benahm sich wie gleich zu gleich. Er hatte dunkles, glatt gescheiteltes Haar, das Wesen eines pflichteifrigen Beamten, sprach sachlich – aber am Schluss seines Vortrages bekam er Schwärmeraugen und verabschiedete sich rasch, mit warmen Händedrücken. Die Neu-Teutonen stimmten nach seinem Besuch alle darin überein, dass der jüdische Liberalismus die Vorfrucht der Sozialdemokratie sei und dass die christlichen Deutschen sich um den Hofprediger Stöcker zu scharen hätten. Diederich verband, wie die anderen, mit dem Wort ›Vorfrucht‹ keinen deutlichen Sinn und verstand unter ›Sozialdemokratie‹ nur eine allgemeine Teilerei. Das genügte ihm auch. Aber Herr von Barnim hatte jeden, der nähere Aufklärung wünschte, zu sich eingeladen, und Diederich würde es sich nicht verziehen haben, wenn er eine so schmeichelhafte Gelegenheit versäumt hätte.

      In seiner kalten, altmodischen Junggesellenwohnung hielt Herr von Barnim ihm ein Privatissimum. Sein politisches Ziel war eine ständische Volksvertretung, wie im glücklichen Mittelalter: Ritter, Geistliche, Gewerbetreibende, Handwerker. Das Handwerk musste, der Kaiser hatte es mit Recht gefordert, wieder auf die Höhe kommen, wie vor dem Dreißigjährigen Krieg. Die Innungen hatten Gottesfurcht und Sittlichkeit zu pflegen. Diederich äußerte sein wärmstes Einverständnis. Es entsprach seinen Trieben, als eingetragenes Mitglied eines Standes, einer Berufsklasse, nicht persönlich, sondern korporativ im Leben Fuß zu fassen. Er sah sich schon als Abgeordneter der Papierbranche. Die jüdischen Mitbürger freilich schloss Herr von Barnim von seiner Ordnung der Dinge aus; waren sie doch das Prinzip der Unordnung und Auflösung, des Durcheinanderwerfens, der Respektlosigkeit: das Prinzip des Bösen selbst. Sein frommes Gesicht zog sich zusammen vom Hass, und Diederich fühlte ihn mit.

      »Schließlich«, meinte er, »haben wir doch die Gewalt und können sie hinauswerfen. Das deutsche Heer –«

      »Das ist es eben«,

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