Der sechste Passagier. Theodor Kallifatides
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Читать онлайн книгу Der sechste Passagier - Theodor Kallifatides страница 11
Wie war das zugegangen?
Einer muß Opfer bringen, hatte Mitsuko gesagt.
Kristina versuchte sich vorzustellen, was das hieß. Nie miteinander aufwachen, nie zusammen in die Ferien fahren, nie gemeinsam Weihnachten feiern.
Vielleicht wurde diesen Freuden zuviel Bedeutung beigemessen. Sie hatte das alles dreizehn Jahre lang mit ihrem Mann erlebt, und was war dabei herausgekommen? Die Scheidung. Während die beiden heimlich Liebenden, die schon genauso lange füreinander entbrannt waren, noch immer vor Wollust gebebt hatten, wenn sie aneinander dachten.
Immer wieder diese Gleichung, die nicht aufging. Wie kann man von der Liebe zehren, ohne sie zu verbrauchen?
Das Bier machte ihre Gedanken auch nicht klarer. Benommen und traurig fuhr sie nach Hause. Als sie die Haustür aufschloß, sah sie, daß sie immer noch nicht das Namensschild ausgewechselt hatte. Der Name ihres Exmannes stand noch da. Sie las ihn wie ein Graffito in einer prähistorischen Höhle. Sie begriff kaum, worum es sich handelte.
Gleich morgen würde sie anrufen und ein neues Schild bestellen.
Um sie herum fiel alles in Scherben. Maria hatte die Scheidung eingereicht, sie selbst war geschieden, Mitsuko hatte vierzehn Jahre lang einen heimlichen Liebhaber gehabt, der Richter Berlin hatte sich nach fast dreißigjähriger Ehe scheiden lassen, Östen war mit einer Frau zusammengezogen, die ihren Mann und ihre drei Kinder seinetwegen verlassen hatte und daran fast zerbrach. Nur Thomas Roth und seine Frau hielten aneinander fest, zusammengeschweißt durch den starken Willen, ihrem schwerbehinderten Sohn ein erträgliches Leben zu schenken.
Anscheinend fiel es den Menschen leichter, ihr Unglück miteinander zu teilen als ihr Glück.
Wie war es so weit gekommen? War es immer so gewesen?
Sie wußte es nicht. Sie sehnte sich danach, mit ihrem Vater zu reden, aber es war schon spät. Sie wollte ihn jetzt nicht mehr stören.
Außerdem, was hätte sie sagen sollen?
Das rote Lämpchen des Anrufbeantworters blinkte. Es war eine Nachricht vom Krankenhaus. Eine Ärztin wollte mit ihr sprechen.
15
Das Krankenhaus Huddinge ist so etwas wie eine Kleinstadt mit jedem nur denkbaren Service. Man kann im Prinzip geboren werden, aufwachsen, zur Schule gehen, arbeiten, heiraten und sterben, ohne von dort wegzugehen.
Eine gute halbe Stunde irrte Kristina durch lange Korridore, bis sie Dr. Eva Strömhed fand, in einem kleinen Zimmer hinter der Krankenhausbibliothek, die kurz vor der Schließung stand, wie auf einem großen Plakat mitgeteilt wurde. Die Besucher wurden aufgefordert, sich in die Protestliste einzutragen, die auf einem runden Tisch vor der Tür auslag.
Kristina hatte genug von Protestlisten. Es gab sie überall, im Büro, beim Hausbesitzerverein, am Bahnhof. Man protestierte gegen Schließungen, gegen alte Versäumnisse, neue Sünden und vergessenes Unrecht. Sie ging vorbei, ohne zu unterschreiben, aber wahrscheinlich würde sie es auf dem Rückweg tun.
Dr. Eva Strömhed saß hinter einem Schreibtisch, auf dem sich Bücher und dickleibige Ordner türmten. Man sah nur ihren langen Hals und ihr Gesicht, das in gewisser Weise an ein neugeborenes Eichhörnchen erinnerte, obwohl sie schon in den Vierzigern war. Kristina mochte sie sofort, um so mehr, nachdem sie einander die Hand geschüttelt hatten. Ein fester, warmer Händedruck von der Sorte, die wie eine Besiegelung anmutet.
Die Ärztin wollte ihr etwas zeigen, und eine neue Wanderung durch die Korridore nahm ihren Anfang, diesmal in Richtung Leichenhalle. Sie passierten eine Reihe sicherheitskodierter Türen, sie begegneten Leuten, die Dr. Strömhed fröhlich grüßten, und Patienten, die sich mit unsicheren Schritten fortbewegten, gestützt von jungen Krankenschwestern in hölzernen Gesundheitssandalen.
Schließlich waren sie da.
In der Leichenhalle gab es sehr wenig Personal, genauer gesagt, nur einen kleinwüchsigen Äthiopier mit geröteten Augen und verstopfter Nase. Es war einfach zu kalt in diesem Raum.
Dr. Strömhed bat ihn, eine Bahre aus dem Gefrierfach zu ziehen. Es war der Junge, der sechste, unbekannte Passagier aus dem abgestürzten Flugzeug.
Der dünne junge Körper war nackt, im Zustand des Todes gefangen wie ein Schiffsmodell in der Flasche. Er würde keine Reisen mehr machen, keine der Freuden und Vergnügungen eines jugendlichen Körpers erleben. Die Kälte hatte seine Haut mit kleinen, glitzernden Eiskristallen überzogen.
Die beiden Frauen fühlten sich geblendet wie von einem Sonnenuntergang. Und sie wünschten sich etwas. Sie wünschten sich, diesem Jungen das Leben wiederzugeben, zu sehen, wie seine Glieder sich lösten, wie er hinter einem Ball herlief oder sich das Haar kämmte.
Es war Dr. Eva Strömhed, die den Bann brach. Sie ging näher an die Leiche heran und deutete auf zwei lange Narben an den Seiten, unterhalb der Rippen. Sie waren nicht ganz verheilt, sie schienen infiziert zu sein. Der Junge war frisch operiert. Weshalb?
Sie wollte es herausfinden, bevor der Körper eingeäschert wurde. Sie mußte eine Autopsie durchführen, eine Obduktion, um mit eigenen Augen zu sehen, um was für Operationen es sich handelte. Eine Obduktion darf nur stattfinden, wenn jemand sie beantragt. Mit anderen Worten, konnte Kristina möglicherweise einen Antrag auf Obduktion stellen?
Das konnte sie. Aber wozu? Hatte die Ärztin einen bestimmten Verdacht?
Eva Strömhed antwortete nicht gleich. Sie bat den kleinen Äthiopier, die Leiche umzudrehen. Noch mehr Narben wurden sichtbar, etwas kleinere diesmal. War der Junge mißhandelt worden? Abwegig war der Gedanke nicht. Aber warum und von wem?
Kristina dachte an das Gespräch mit Mitsuko. Sie wollte ihr gegenüber loyal sein. Wenn sie eine Obduktion beantragte, würde der ganze Justizapparat in Bewegung geraten, Geheimnisse würden aufgedeckt werden, viele Menschen würden leiden müssen. War es das wert? Der Junge war doch ohnehin tot.
Sie konnte sich nicht entscheiden.
Eva Strömhed kannte die Gründe für ihr Zögern nicht, aber sie wollte sie nicht drängen. Außerdem war sie selbst viel zu unsicher, was ihren Verdacht betraf. Sie hatte gewisse Vermutungen, aber die würde sie um nichts in der Welt preisgeben, bevor sie festen Boden unter den Füßen hatte.
Sie war Wissenschaftlerin, und deshalb war es für sie das Wichtigste, sich abzusichern. Ohne Obduktion hatte sie nichts in der Hand. Aber danach würde sie vielleicht genauso wenig in der Hand haben. Kurzum, sie konnte nicht darauf bestehen. Trotzdem fragte sie ein letztes Mal, ob Kristina bereit sei, ihr zu helfen.
Ihre Wangen glühten, und sie verstummte abrupt, als ob sie bereute, was sie gesagt hatte.
Auch Kristina blieb stumm. Der Junge war tot, aber die Narben an seinem Körper waren Wirklichkeit. Wer hatte sie verursacht?
Es war ihre Pflicht, das herauszufinden, jeden Stein umzudrehen auf der Jagd nach den Schuldigen.
Zugleich fühlte sie eine große, schwere Müdigkeit. Wozu sollte das gut sein? Der Tod war unwiderruflich, und seine Wirklichkeit degradierte alle anderen Probleme zur Nebensache. Warum diesen jungen Körper noch einmal schänden? Ihn aufschneiden, in ihm herumwühlen?
Bislang