Der sechste Passagier. Theodor Kallifatides

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Der sechste Passagier - Theodor Kallifatides

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Valetieri war vor knapp zwei Wochen aus dem Urlaub zurückgekommen. Sie hatte die Ferien bei ihrer Großmutter auf Sardinien verbracht, in einem gottverlassenen Dorf namens Castello, wo man den Eindruck hatte, sowohl die Landbewohner als auch die Fischer auf dem Meer seien noch immer dieselben wie vor vielen Jahren.

      Bei ihrer Ankunft hatte sie sich stumpf wie ein altes Küchenmesser gefühlt, aber schon nach einer Woche hatte sie ihre Form zurückgewonnen. Sie hatte sich gedehnt und gestreckt. Eine solche Wirkung ging von dem Dorf aus, von Himmel und Meer, von den alten Feigenbäumen und nicht zuletzt von ihrer Großmutter, die mittlerweile siebenundachtzig war, sieben Kinder zur Welt gebracht und vier davon begraben hatte, den Ehemann sowieso. Doch wenn sie in der Tür ihres niedrigen Hauses stand, dann schien sie es zu sein, die die Mauern stützte.

      Jeder Mensch trägt etwas Heiles, Unzerstörtes in sich. Es gibt Orte, an denen man es verliert, und solche, an denen man es findet. In dem sardischen Dorf wurde Maria, geboren und aufgewachsen in Hagsätra südwestlich von Stockholm, wieder heil und ganz.

      Sie erkannte, daß ihre Ehe zu einem zerstörerischen Teufelskreis geworden war, aus dem sie sich befreien mußte. Sie wollte ihrem Mann nichts Böses, im Gegenteil, sie hatte ihn geliebt, er war ihre Jugendliebe gewesen, aber er liebte sich selbst nicht mehr. Man konnte nicht mehr mit ihm leben, es war so sinnlos wie der Versuch, am Sandstrand einen Tunnel zu bauen.

      Deshalb schrieb sie ihm, daß sie sich scheiden lassen wolle. Er reagierte so, wie sie es erwartet hatte. Zuerst mit einem Tobsuchtsanfall, bei dem er alles im Haus zertrümmerte, was nicht niet- und nagelfest war. Dann kam die Verzweiflung, das Besäufnis, und schließlich der Zusammenbruch. Man brachte ihn bewußtlos in die Klinik.

      Ein paar Tage später, als er wieder nüchtern war, folgten Angst und Reue. Er schrieb ihr, daß er mit allem einverstanden sei und daß er einsehe, wie schlecht er sie behandelt hätte. Am Schluß des Briefes bat er sie um Vergebung und räumte zugleich ein, er wisse, daß sie ihm niemals vergeben könne, weil das, was er getan habe, unverzeihlich sei. Schweden haben bekanntermaßen ein besonderes Talent, vom schlechten Gewissen überwältigt zu werden, und sie kennen dann keine Grenzen mehr.

      Schließlich zog er aus der gemeinsamen Wohnung aus und nahm einen Job in Sundsvall an. Als Ingenieur hatte er keine Schwierigkeiten, Arbeit zu finden.

      Als Maria zurückkam, war niemand da, der auf sie wartete. Sie war braungebrannt und ausgeruht, fühlte sich schön und begehrenswert, schon in Castello hatte sie gesehen, wie die Augen der alten Männer auf dem Dorfplatz bei ihrem Anblick wieder zu glitzern begannen.

      Sie beging einen Fehler. Sie besuchte ihren Mann in Sundsvall, sie machten einen langen Spaziergang am Fluß, aßen gegrillten Saibling in einem Restaurant am Hafen und schliefen miteinander in seinem schmalen Bett. Erst da begriff sie, daß es vorbei war. Von der Energie ihrer Liebe war nichts mehr übrig, nur noch Abfall.

      Er, der Ingenieur, erklärte ihr, daß das mit jeder Energie so sei: sie verschwindet nicht, aber sie wird unerreichbar, nach dem zweiten Gesetz der Thermodynamik. Er hatte früher als Maria erkannt, daß es vorbei war, aber das lag auch daran, daß er sich schuldig fühlte. Nichts schärft den Blick so sehr wie ein schlechtes Gewissen.

      Sie weinte. Was hätte sie sonst tun sollen?

      Sie weinte den ganzen Weg von Sundsvall nach Stockholm, während die Erkenntnis, daß der Verlust endgültig war, sich immer tiefer in ihr festsetzte. Darüber weinte sie noch mehr.

      Nun saßen sie in Kristinas Garten. In diesem regnerischen Sommer waren die Fliederbüsche in die Höhe geschossen, auch der Ahorn, den Kristina und ihr Mann gemeinsam gepflanzt hatten, als sie das Haus kauften. Der See, der weiter unten lag, wurde immer dunkler. Maria wollte nicht nach Hause, und Kristina wollte nicht allein sein. Sie tranken langsam und redeten leise.

      Morgen würden sie die Arbeit in Angriff nehmen. Ein rätselhafter Junge war an Bord des verunglückten Flugzeugs gewesen, und sie mußten denjenigen oder diejenigen finden, die etwas darüber wußten.

      Im Augenblick konnten sie nichts tun, als weiter an einem Flickenteppich zu weben, auf dem ihre Freundschaft barfuß gehen konnte.

      Kristina erkannte in allem, was Maria erzählte, den Aufstieg und Fall ihrer eigenen Ehe wieder. Obwohl sie nie auf den Gedanken gekommen war, daß Liebe eine Energie sei, die sich verbraucht wie jede andere Form von Energie. Die optimistische Sicht der Dinge war, daß man um so mehr Liebe zurückbekommt, je mehr Liebe man gibt.

      Vielleicht war das ein Irrtum. Sie war nicht imstande, den Gedankengang bis zu Ende zu verfolgen. In diesem Moment war sie vollkommen zufrieden, hier zu sitzen und Marias Stimme zu lauschen, während die Nacht unschlüssig über den Gärten schwebte.

      Es war nach elf, als sie sich mit der angenehmen Gewißheit trennten, daß sie sich schon am nächsten Tag wiedersehen würden.

      Kristina war müde, aber nicht schläfrig. Sie schenkte sich noch ein Glas Wein ein und löschte alle Lichter im Haus. Sie wollte nachdenken, aber wie es so oft der Fall ist, wenn man nachdenken will, dachte sie an gar nichts.

      Sie sah nur ein Bild vor sich, das Gesicht eines dunkelhäutigen Jungen. Sie mußte versuchen, dem Gesicht einen Namen zu geben.

      9

      In der Nacht schlug das Wetter um. Das Hochdruckgebiet zog weiter nach Norden, verdrängt durch ein atlantisches Tiefdruckgebiet, das von den Britischen Inseln kam.

      Dunst lag so dicht über dem Wasser, daß er nicht mehr davon zu unterscheiden war. Es herrschte völlige Windstille, nur das oberste Espenlaub regte sich.

      Kristina wachte mit leichten Kopfschmerzen auf, die sie wegzumassieren versuchte. Zur Sicherheit nahm sie dann doch zwei Tabletten. Eine Stunde später betrat sie den Besprechungsraum.

      Östen Nilsson war schon da. Noch sonnengebräunt von seinem Urlaub auf Farö, wo er endlich sein Sommerhaus in Ordnung gebracht hatte, überwachte er die Kaffeemaschine. Es duftete angenehm.

      Kurz danach tauchte Thomas Roth auf. Er brachte einen Kirschkuchen mit, den seine Frau gebacken hatte. Maria erschien wie üblich als letzte. Sie war ja auch die Jüngste und brauchte ihren Morgenschlaf.

      Sie tranken Kaffee und langten beim Kuchen kräftig zu. Sie redeten ohne Hektik miteinander. Noch waren die Urlaubswochen in ihren Stimmen und Gesten gegenwärtig. An einem solchen Morgen ist das Leben weich und entspannt.

      Auch wenn die Wirklichkeit ganz anders aussieht.

      Das Flugzeugunglück beherrschte die Titelseiten sämtlicher Zeitungen. Man spekulierte über die Ursachen, die Havariekommission hatte bislang weder die Maschine noch deren Black Box untersucht. Man spekulierte auch über den unbekannten Passagier, den Jungen, und stellte die Theorie auf, daß es sich um einen illegalen Einwanderer handeln könne.

      Das war durchaus möglich. Unmöglich war in diesen Zeiten nichts. Vor kurzem erst hatte man zwei junge Filipinos erfroren im Motorraum eines Charterflugzeugs aufgefunden.

      Die Abendzeitungen neigten mehr zur Pädophilie-Hypothese. Auch das war nicht so abwegig. Die Polizei hoffte freilich, daß es nichts Derartiges sein möge. Die Erfahrung hatte gezeigt, daß Ermittlungen wegen Pädophilie in die breitesten Kreise wie in die obersten Schichten der Gesellschaft führen können.

      Maria hoffte, daß es eine einfache Erklärung geben würde, das ließ sich mit ihrem Sinn fürs Tragische besser vereinbaren. Verbrechen sind selten tragisch, sie sind eher einfältig.

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