Seemanns-Legende und andere Erzählungen. Henryk Sienkiewicz
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Inzwischen war das von der Quarantänestation gesandte Boot am Schiff angelangt. Vier bis fünf Männer kamen an Bord. Zurufe und Hinundwiderreden wurden laut. Diesem Boote folgte bald ein zweites direkt aus der Stadt. Es brachte Agenten aus den Hotels und Boarding-houses, Führer, Geldwechsler, Eisenbahnagenten. Alle diese Menschen riefen, schrieen und lärmten durcheinander, es begann ein Stoßen und Hinundherschieben auf Deck.
Lorenz und Maryscha wußten in diesem Wirrwarr nicht mehr was sie thun sollten. Da kam der Kassube und riet ihnen, gleich hier ihr Geld zu wechseln. Er wollte ihnen behilflich sein und dafür sorgen, daß sie dabei nicht betrogen würden. Toporek erhielt für das, was er besaß, siebenundvierzig Silberdollars. Während alles das auf dem Schiffe sich begab, war dasselbe der Stadt so nahe gekommen, daß man nicht nur die Häuser, sondern auch die davorstehenden Menschen unterscheiden konnte. Das Bollwerk stand dichtgedrängt voll Männer und Frauen, die der Ankunft des Schiffes entgegen sahen. Es lavierte jetzt zwischen größeren und kleineren Fahrzeugen hindurch, lief in die Docks ein und ließ dann die Anker fallen.
Die Seereise war zu Ende.
Die Menschen strömten der Stadt zu, es wirbelte auf dem Schiffsdeck wie in einem Bienenstock, auf der schmalen Landungsbrücke entstand ein großes Gedränge. In buntem Wechsel kamen sie alle, die an's Land wollten, sich stoßend, schiebend – die Passagiere der ersten und zweiten Klasse, die des Zwischendecks zuletzt mit ihrem Gepäck beladen.
Als Lorenz und Maryscha die Landungsbrücke eben betreten wollten, stand an der Bordöffnung ihr kassubischer Freund. Er streckte ihnen beide Hände entgegen, schüttelte die ihrigen kräftig und verabschiedete sich von ihnen mit den Worten:
»Bruder, ich wünsche Euch Glück und auch Dir, Mädel! Gott helfe Euch!«
»Gott lohne Dir Deinen Wunsch,« antworteten beide gleichzeitig. Dann wurden sie durch die Nachdrängenden von ihm getrennt. Sie befanden sich bald darauf in dem geräumigen Zollhause.
Der Zollbeamte in grauem Rock mit silbernem Stern betastete ihr Gepäck, darnach rief er: » All right« und wies sie nach dem Ausgange! Nun standen sie auf der Straße.
»Was werden wir jetzt anfangen, Väterchen?« frug Maryscha.
»Wir müssen warten,« antwortete Lorenz. »Der Agent hat mir gesagt, daß der Kommissar von der Regierung bald nach Ankunft des Schiffes kommen und nach uns fragen werde.«
Sie suchten sich eine geschützte Stelle dicht an der Mauer des Zollhauses und warteten. Der Lärm der Großstadt umtoste sie. So etwas hatten sie noch nicht gesehen. Die langen geraden Straßen, Wagen, Menschen, Omnibusse, Lastwagen, alles, als ob Jahrmarkt hier wäre, dazu die fremden Leute ringsum, die Sprache, in welcher gesprochen, gerufen, geschrieen wurde und von der sie nichts verstanden. Beim Anblick einiger Schwarzer bekreuzten sie sich, im Glauben, es seien böse Geister.
So verstrich Stunde um Stunde. Sie standen noch immer an derselben Stelle, aber der Kommissar kam nicht. Wo anders wäre das seltsame Paar, dieser polnische Bauer mit dem langen, graumelierten Haar und der viereckigen Pelzmütze und das blonde Mädchen im roten Mieder und den vielen Glasperlenschnüren um den Hals wohl jedermann aufgefallen, in New-York fällt nichts auf, dort hastet ein jeder nach Erwerb und hat nicht Zeit, sich um andere zu kümmern.
Wieder hatte die Turmuhr in der Nähe eine volle Stunde geschlagen; der Himmel hatte sich mit Wolken bezogen, Regen mit Schneeflocken vermischt träufelte leise hernieder, ein feuchter kalter Wind stellte sich gegen Abend ein.
Der polnische Bauer hat viel Ausdauer und Geduld, er versteht zu warten. Doch als der Kommissar noch immer nicht erschien, wurde ihnen beiden sehr wehe zu Mute.
Wenn sie sich auf dem Schiffe vereinsamt gefühlt hatten, so war das jetzt hier noch mehr der Fall. Sie hatten sich sicher und geborgen geglaubt, sobald sie festes Land unter sich hatten, nun merkten sie erst, daß der Einzelne in dem Getriebe der Großstadt vollkommen verschwindet.
Maryscha bebte vor Angst und Kälte. Wind und Regen hatten ihre und des Vaters Kleider durchnäßt, wo sollten sie hin, wo ein Obdach finden.
Allmählich stockte das Leben und Treiben im Hafen, abendliche Ruhe trat ein. Die Arbeiter von den Werften zogen singend heimwärts, die Stadt erglänzte nach und nach in einem unendlich scheinenden Lichtmeer. Das Zollhaus wurde geschlossen, dann wurde es ganz still um sie und zuletzt brach die Nacht herein. Wenn sie auch längst gerne das Warten aufgegeben hätten, so wußten sie doch nicht, wohin sie sich hätten wenden können. So verharrten sie also auf ihrem Platze, von dem sie auch niemand vertrieb. Der Agent hatte sie sicher betrogen; er bekam seine Prozente für die Stückzahl der Auswanderer, was kümmerte ihn schließlich ihr Fortkommen und ihr Verbleib.
Lorenz fühlte, wie die Füße unter ihm schwach wurden; aber er fühlte nicht nur seine Schwäche, viel mehr als diese drückte ihn die Verantwortung seiner Tochter gegenüber. Hatte nicht sein Wille das Mädchen in die trostlose Lage gebracht, in der sie sich befanden?
Er stand und wartete und litt mit der Ausdauer des polnischen Bauern ...
»Väterchen!« tönte es leise neben ihm.
»Sei stille! Es gibt keine Barmherzigkeit,« sagte er barsch.
»Gehen wir zurück nach Lipiniez,« flehte das Mädchen.
»Eher ertränke ich mich!«
»O Gott, o Gott!« flüsterte Maryscha.
Eine große Seelenpein bemächtigte sich Toporek's.
»O Du arme Waise ...« rief er verzweifelt. »Gott erbarme sich Deiner.«
Sie hörte ihn nicht mehr. Ihr Kopf war an die Wand gesunken, sie war vor Müdigkeit eingeschlafen.
Die Morgendämmerung beleuchtete mit fahlem Schein zwei schlafende Menschen mit blassen, von der Kälte bläulich angehauchten Gesichtern. Eine leichte Schneedecke lag auf ihren Kleidern, wie ein Bahrtuch über Gestorbenen.
* * *
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