Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge. Rainer Maria Rilke

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Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge - Rainer Maria Rilke

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sprachen nichts. Ich gab mich der Weihe des Waldes und dem geheimnisvollen Zauber des schönen jungen Wesens hin, das da so ernst neben mir einherschritt. Ein Feldblümchen wucherte am Rande. Ich brach es und reichte es dem Mädchen hin. Sie nahm es, beschaute es mit traurigem Blick, zerriß dann, wie einem augenblicklichen Unmut gehorchend, den dünnen grünen Stengel, der leise stöhnte. Dann machte mir Felice eine abwehrende Bewegung und verschwand wegabseits in den dichten hohen Stämmen. Ich wagte nicht ihr zu folgen. Noch erkannte ich das graue Kleid in wechselndem Licht zwischen den dunklen Baumriesen, dann war sie ganz meinen Blicken entzogen.

      So trafen wir uns einige Male. Sie schien Vertrauen zu mir zu fassen. Sie stimmte, wenn ich die Landschaft bewunderte, oder das köstliche Aroma der tannenduftenden Luft pries, leise ein. Schon das war mir Genugtuung. Auf einem dieser Gänge sagte ich zu ihr: »Fräulein Felice, sehen Sie die Blumen, wie froh die blühen, hören Sie den Gesang der Vögel, die Stimmen der Quellen… All das ermahnt zum Frohsinn und Sie sind so traurig?« Als ich aufschaute bemerkte ich, wie mich das Mädchen groß und fragend anblickte; dann bedeckte sie das Gesicht mit den Händen und weinte, weinte, daß mir ganz weh zu Mute ward. An diesem Tage sprachen wir kein Wort mehr.

      Seither war eine Woche vergangen. Vergebens hatte ich auf meinen Wanderungen die liebe, gewohnte Begegnung erhofft, auch im Speisesaale fand sich Felice nicht ein. Sie sei ein wenig unpaß, sagte der Rat und die Mutter hatte rote Augen.

      Endlich traf ich sie wieder. Sie kam auf mich zu und sagte: »Sie haben mich heute gefragt… oder nicht heute…« Ich fühlte ihre Verlegenheit, die Vorstellung der Zeit hatte sich ihr verwirrt… »Ich habe gefragt«, ergänzte ich, »Fräulein Felice, warum Sie so traurig sind?« Nie werde ich vergessen, was jetzt folgte. Das Mädchen trat einen Schritt zurück, sie hob den Kopf, ihre ganze Gestalt schien höher, übergroß, das Auge nahm eine eisige Starrheit an, und durch die blassen Lippen hauchte es, ohne daß sie sich regten: »Ich bin tot.«

      Unwillkürlich tat ich ein paar Schritte zurück. Und wie sie jetzt mit unmerklichen Tritten langsam auf mich zukam, da war mir wirklich, als ginge von dieser Gestalt ein Moderduft aus, so kalt, so schrecklich. Aufgeschrieen hätt ich wie ein Kind am liebsten. Ich ermannte mich. Ein Schauer ging mir über den Rücken. Aber ich folgte ihr. Bis zu ihrer Wohnung geleitete ich sie. Wir sprachen kein Wort. Mir war entsetzlich zu Mute. Ich hatte Fieber, gewiß. Die Nacht hindurch quälten mich irre Träume. Morgens erwachte ich matt mit schwerem, wüstem Kopfe.

      Jetzt sahen wir uns häufiger. Oft saßen wir stundenlang neben einander auf einer Moosbank; ich erzählte ihr Geschichten. Sie hörte sehr aufmerksam, fast ängstlich zu. Ich trachtete sie möglichst durch heitere Ereignisse zu ermutigen. Dann sagte sie mir: »Du, (seit ein paar Tagen bediente sie sich immer dieses vertraulichen Wortes) weißt du das sicher?« Und wenn ich bejahte: »Ja, aber das waren Menschen, wirkliche lebende Menschen, aber ich bin ja tot, lange tot…« Dann mochte ich sagen, was ich wollte, sie blieb still und ernst.

      Einmal als sie meine Erzählung wieder mit diesen entsetzlichen Worten abgebrochen hatte, wagte ich die Frage: »Felice, wann bist du gestorben?« »Wann?« wiederholte sie und ihre Augen nahmen wieder jene Starrheit an, ihr Körper verlängerte sich… Dann aber zuckte sie zusammen, setzte sich an meine Seite und sagte mit kindlichem, rührendem Zutrauen: »Wenn ich es noch weiß, sollst du’s wissen: Ich war ein Kind, ein kleines Kind, weißt du. So ein Kind, das mit Puppen spielt, Ball wirft und sich an Blumen freut. Das sind viele, viele tausend Jahre her. Ich hatte keine Geschwister, aber ein paar frohe, muntere Spielgenossen, die Maria, die von Bergers«, sie sagte das leise und zählte in kindischer Weise an den Fingern, »die Elsa, die Lene, Gretchen, Kurt, Hans«, beim letzten Namen zögerte sie und brach dann in heftiges Schluchzen aus. Ich konnte sie mit Mühe beruhigen. Dann lächelte sie wieder. »Mutter«, sagte sie mit den Mienen eines entzückten Kindes, »hat mir immer gar schöne Sachen gegeben, Püppchen, so ganz kleine, weißt du, mit wirklichen Schuhen und goldigen Haaren, aber«, über ihr Gesicht floh ein tiefer Schatten, »damals war ich ja noch lebendig und jetzt, jetzt bin ich tausend Jahre tot, tausend Jahre.« Ihr Wort erstarb tonlos. Mich schauerte.

      Felice aber fuhr fort: »Wir spielten immer zusammen. Alle wir Kinder. Wir pflückten Blumen… Blumen…« Sie schien nachzusinnen; dann schüttelte sie mit dem Kopfe: »Ich muß dirs sagen. Es war im Herbst. Ein grauer, grauer Tag drückte auf die Welt. Du mußt zu Hause bleiben, sagt die Mutter. Aber die Uhr tickt so einsam; und die Bilderbücher habe ich so oft gesehen, so oft… und die Mutter geht in die Küche. Ich schlüpfe hinaus in den Garten. Leicht, daß ich einen von den Gespielen seh’… Richtig, dort steht Hans zu Seiten des Gesträuches. Mein Schritt klatscht auf dem durchnäßten Boden; er soll mich nicht hören. Pst!… also auf den Spitzen… so, so… hinters Gebüsch… ein feiner Regen sticht mich in die Augen. Hans bemerkt mich nicht. Er hält etwas in der Hand. Ich schau deutlich: ein Vogel, ein kleiner, lieber Vogel. Was tut er? Er streichelt ihn wohl, so denk ich. Da hör ich piepsen. Piep… Piep… hörst du’s?« Sie faßte mich bei der Hand. »Das klingt so bang; und die Luft war so grau und ich bieg’ die Äste weg… und da, da…« Felice war aufgesprungen, sie stieß die Worte in atemloser Erregung hervor und starrte auf einen Punkt, als stünde dort der Knabe. »Da siehst du, siehst du, er drückt dem kleinen, armen Vogel beide Daumen an die Kehle, der schreit und flattert. Hans aber lacht, siehst du’s, wie er lacht. Und er drückt zu… und ich will schreien und kann, kann nicht… Der kleine Vogel reißt den Schnabel weit auf, weit dann fällt das Köpfchen herab … da, da zuckt mirs so da, da durch«, sie fuhr nach dem Herzen, »und da bin ich gestorben.« Ihr Wort ging tonlos aus. Sie ließ sich neben mir auf die Bank fallen. Ihre Augen waren geschlossen. Kein Atemzug hob ihre Brust… sie lag neben mir, ein entsetzliches Bild des bleichen, bleichen Todes…

      Wir saßen selbander auf der Moosbank. Es war einer jener herrlichen Frühsommertage, wo die Welt eine große volltönende Hymne scheint, die die Schönheit preist des wahren wonnigen Lebens. Der Wald schien ein Tempel, auf dessen stämmigen Säulen die unendliche Decke in blauender Klarheit ruhte; der Wind bewegte mit zartem Hauche die Zweige und aus dem Tannicht stieg des berückenden Duftes schmeichelnder Weihrauch. Stille. Mir war, als ginge an uns vorbei auf dem moosumrandeten Pfade eine gute, milde, segenstreuende Gottheit, der die Menschen zu opfern vergessen, einsam dahin. Ich glaube es war ein Gebet, das mir in der Seele erwachte, tief, tief, ein Gebet zu diesem unbekannten, übermenschlichen Wesen des Waldes, das bis auf die Lippen sich rang. Ich flehte, es möchte das holde Weib neben mir aus der schrecklichen grauen Umnachtung aufwachen und rings um sich freudig den Odem des lieben, lebendigen Lebens ahnen und fühlen… Hatte ich laut gesprochen? Das Mädchen legte die Hand sanft auf die meine und blickte mich an so traurig, daß mein Herz aus dem Taumel der Freude jäh auffuhr… Es würgte mir die Kehle. Ich wollte etwas sagen, ermuntern, trösten. Das Wort erstarb. Wir schwiegen. Vor uns lag der weite sonnendurchflutete Wald. Lustige Lichter hüpften in übermütiger Hast hin über den Moosgrund und erloschen ferne im Dunkel verdämmernder Stämme. Ich starrte vor mich auf den Weg. Da hüpfte gegenüber aus dem Dickicht ein kleiner, kecker Vogel geradenwegs auf uns zu. Er sprang hin über den Kiespfad, badete das graue Gefieder in der glühend durchsonnten Sandflut und kam auf uns zu, dicht bis an unsere Füße. Ich bemerkte, daß Felice aufmerksam das niedliche Tierchen verfolgte, wie ihre Züge heller und heller wurden. Ja, wahrhaftig sie lachte… So hatte ich sie noch nie gesehen. Ich erinnerte mich, daß ich ein paar Brosamen in der Tasche trug, die streute ich nun dem zutraulichen Gaste hin, und er pickte sie auf und drehte sein Köpfchen nach rechts und nach links und neigte sich wieder zur Erde. Das Mädchen neben mir legte behutsam die Hand auf meine Schulter und wandte den Kopf mir zu. Ich sah ihr in die Augen. Aber wie war mir, die Schleier, die trüben, verhüllten nicht mehr die grauen, tiefen Lichtsterne; sie strahlten in so unsagbarem Glück auf, daß es mich wie ein holder, jauchzender Wahnsinn packte: »Felice«, schrie ich, »du lebst«, und drückte das bebende Weib in seliger Sehnsucht an mich. Sie schwieg. Sie hielt mich fest umschlungen, dann riß sie sich los, begrüßte mit klaren Blicken des innigsten Dankes Himmel, Licht, Sonne und Dasein, eilte in meine Arme zurück und weinte, das Köpfchen an meine Schulter gepreßt, erlösende Tränen der Freude. Glücklich wie Kinder schritten wir beide heimwärts und es war des

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