Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge. Rainer Maria Rilke
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Das schreckliche Gespenst, dem ich zum Opfer falle, und dessen Nahen ich von Kindheit auf fürchtete, trat damals zuerst an mich heran. Ich fühlte Beschwerden, spuckte Blut. Die Ärzte schüttelten den Kopf: Nach Süden, nach Süden. Lange verschwieg ichs Felice, die meine Braut geworden war. Endlich überfiel mich einmal in ihrer Gegenwart der Husten. Sie scherzte erst. Ich winkte ihr zu gehen. Da ward sie ängstlich. Sie blieb. Als ich mich von meinem Anfall erholt hatte, gestand ich: Daß ich sie nie heimführen dürfe, daß… was weiß ich was Alles… Sie lag schluchzend in meinen Armen. Ich weinte auch. Spät trennten wir uns. Entsetzlicher Abend! Als ich sie zur Tür geleitete, war es schon dunkel. Und da, wie sie so vor mir stand, da legte sich wieder der trübe Nebelhauch schrecklicher Starrheit über die fluttiefen großen Augen, ihre Gestalt wuchs, die Hand in der meinen ward eiskalt, und ein Moderhauch schien von ihr auszugehen…
Damals sahen wir uns zum letzten Mal. Den nächsten Tag reiste ich ab. Der Rat war beim Wagen. Felice schickte ein Briefchen. Ich nahm es zu mir, bat ihr meinen letzten Gruß zu bringen und riß mich endlich aus den Armen des alten Mannes. Im Coupé erst wollte ich Felice’s Zeilen lesen. Ich war noch zu erregt. Ich hatte im Zuge Platz genommen. Als das Hin-und Herlaufen der Reisenden vorüber und ich in meinem Abteil allein geblieben war, nahm ich das teuere Kleinod vor. Ich las nur die Worte… »Leb wohl, ich muß zum zweiten Male sterben!« … Ein schreckliches Ahnen ergriff mich.
Ich mußte zurück. Ewigkeiten schienen mir die Minuten bis zur nächsten Haltestelle. Endlich! »Wann geht der Zug zurück?« »In zwei Stunden!« Da tritt der Stationschef auf mich zu: »Sind Sie Herr M …?«… Ich nickte, zu sprechen vermag ich nicht. Ich sehe, wie er ein Telegramm hervorzieht. Mechanisch öffne ich: »Felice beim Teich abgerutscht, alles vorüber. Gott stärke uns…«
Der Apostel (1896)
Gasttafel im ersten Hotel von N. An die Marmorwände des hohen, hell erleuchteten Saales brandet Raunen der Menschen und Rasseln der Messer. Geschäftig, gleich lautlosen Schatten, huschen die schwarzbefrackten Diener mit den silbernen Platten hierhin und dorthin. Aus den blanken, hochbeinigen Eiskübeln blinzeln die Sektflaschen nach den flachen Weinschalen hin. Alles glänzt und flimmert in den Strahlen der elektrischen Lampen. Die Augen und die Schmucksteine der Damen, die Glatzen der Herren und endlich die Worte, die hin und wider hüpfen wie Feuerfunken. Wenn sie zünden, schlägt einmal nah, einmal fern die grelle Lohe eines kurzen Lachens aus einer Frauenkehle. Dann schlürfen die Damen eifrig die duftende Brühe aus den feinen, durchschimmernden Tassen, während die jüngeren Herren den Kneifer über die Nase spreizen und mit kritischem Blick die bunte Tafelrunde mustern.
Sie saßen alle schon seit Tagen so beisammen. Nur am Ende des Tisches hatte ein neuer, fremder Gast Platz genommen. Die Herren ließen ihr Auge flüchtig über diese Erscheinung weggleiten, denn der bleiche, ernste Mann, der dort unten saß, trug nicht modische Kleidung. Ein hoher, schneeweißer Kragen schmiegte sich bis an sein Kinn hinauf, und die breite, schwarze Binde, die man im ersten Dritteil unseres Jahrhunderts trug, umschloß den Hals. Der schwarze Rock ließ kein Stückchen der Hemdbrust sehen und lag feierlich auf den breiten Schultern. Was aber die Herren noch unangenehmer berührte, war das große, graue Auge des Ankömmlings, das hoheitsvoll und mächtig durch die ganze Gesellschaft, durch die Wandung des Raumes zu dringen schien, und das leuchtete, als ob ein fernes, schimmerndes Ziel sich beständig drin spiegelte. Dieses Auge veranlaßte die neugierigen, heimlichen Blicke der Frauen. Man munkelte sich über den Tisch hinüber Vermutungen zu, man stieß sich ganz leise mit den Füßen an, man fragte, forschte, zuckte die Achseln und wurde trotz alledem nicht klüger.
Im Mittelpunkt der Unterhaltung stand die polnische Baronin Vilovsky, eine geistreiche, jüngere Wittib. Auch sie schien schon Interesse für den schweigsamen Fremdling gefaßt zu haben. Ihre schwarzen, großen Augen hingen mit auffallender Ausdauer an seinen durchgeistigten Zügen. Ihre schmale Hand trommelte nervös auf dem weißen Damast des Tischtuches, daß der prächtige Brillant auf dem kleinen Finger Blitz um Blitz schoß. Sie griff in begieriger, kindischer Hast bald dies, bald jenes Thema auf und brach dasselbe in einer Weile jäh und trotzig ab; denn der Fremde wollte sich durchaus nicht beteiligen. Sie hielt ihn für einen Künstler. In bewundernswert feiner Art wußte sie um alle Künste nach und nach den Faden des Gespräches zu schlingen. Umsonst. Der schwarze Herr schaute groß und ernst ins Weite. Baronin Vilovsky aber gab sich nicht verloren.
»Sie haben doch von dem großen Brandunglück im Dorfe B. gehört?« wandte sie sich zu einem Herrn an ihrer Seite. Und als man bejahte: »Ich denke, wir bilden ein Komitee, das irgend eine Wohltätigkeitsveranstaltung, verbunden mit Sammlung, ins Leben rufen soll?« Sie sah fragend umher. Lauter Beifall lohnte ihr. Über die Züge des Unbekannten huschte ein höhnisches Lächeln. Die Freiin fühlte dieses Lächeln, ohne daß sie es sah: Zorn wühlte in ihr.
»Sind alle einverstanden?« rief sie jetzt im Ton einer Herrscherin, die keinen Widerspruch erwartet. Ein Stimmenchaos: »Ja!« »Einverstanden!« »Natürlich!«
Mein Gegenüber, ein Kölner Bankherr, legte schon wie beteuernd seine Hand auf die Brusttasche, in welcher sich die Banknoten stauten.
»Dürfen wir auch auf Sie rechnen, mein Herr?« So die Baronin dem Fremden. Ihre Stimme zitterte. Jener erhob sich ein wenig und sagte laut, ohne den Blick zu wenden, mit brutalem Ton: »Nein!« Die Baronin zuckte zusammen. Dann zwang sie sich zu lächeln. Aller Augen waren auf den Fremden gerichtet. Der wandte sein Auge der Freifrau zu und fuhr fort:
» Sie tun ein Werk der Liebe; ich geh in die Welt, um die Liebe zu töten. Wo ich sie finde, da morde ich sie. Und ich finde sie oft genug in Hütten und Schlössern, in Kirchen und in der freien Natur. Aber ich folge ihr unerbittlich. Und wie der starke Lenzwind die Rose bricht, die sich zu früh hervorgewagt, so vernichte ich sie mit meinem großen, zürnenden Willen: denn zu früh ward uns das Gesetz der Liebe.« Seine Stimme verhallte dumpf, wie der Glockenton beim Ave. Die Baronin wollte entgegnen, aber der Mann fuhr fort: »Sie verstehen mich noch nicht. Hören Sie: Die Menschen waren unreif, als der Nazarener zu ihnen kam und ihnen die Liebe brachte. Er, in seinem lächerlich kindischen Edelmut, glaubte ihnen ein Gutes zu tun! Für ein Geschlecht von Giganten wäre die Liebe ein herrliches Ruhekissen, in dessen wollüstiger Weise sie neue Taten träumen dürften. Den Schwachen aber ist sie Ruin.« Ein katholischer Priester, der anwesend war, griff mit der linken Hand nach seiner Halsbinde, als wäre sie ihm plötzlich zu enge geworden.
»Ruin!« dröhnte es aus dem Munde des Fremden. »Ich spreche nicht von der Liebe der Geschlechter. Von der Nächstenliebe spreche ich, von Mitleid und Erbarmen, von Gnade und Nachsicht. Es giebt keine schlimmeren Gifte in unserer Seele!« Der Priester gurgelte etwas durch die dicken Lippen.
»Christus, was hast du getan! Mir ist, man hat uns aufgezogen, wie jene Raubtiere, denen man ihren innersten Trieb mit berechnender Klugheit genommen, damit man, wenn sie zahm geworden, ungestraft mit Knuten auf sie einhauen darf. So hat man uns die Zähne abgefeilt und die Klauen, und man hat uns gepredigt: Liebe! Man hat uns die Eisenrüstung unserer Kraft von den Schultern gezogen und hat uns gepredigt: Liebe! Man hat uns den Demantspeer unseres stolzen Willens aus den Händen gewunden und hat uns gepredigt: Liebe! Und so hat man uns nackend und bloß in den Sturm des Lebens gestellt,