Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May
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Alma blieb allein zurück. Sie brauchte sich nicht mehr zu beherrschen. Der Ausdruck kalter Gleichgiltigkeit wich aus ihrem Gesichte, und ihre Züge sprachen nun unverhohlen den Schreck aus, welcher sie bei der Eröffnung des Vaters ergriffen hatte.
»Hellenbach's Braut!« flüsterte sie, indem sie sich leise schüttelte. »Und das so ganz plötzlich, so unvorbereitet! Man hat es nicht einmal für nöthig befunden, es mich während dieser langen Zeit wissen zu lassen! Man hat über mich verfügt so eigenmächtig, wie man über die Besitzveränderung eines Pferdes bestimmt. Soll ich mich fügen? Kann ich mich fügen? Kann ich mit gutem Gewissen die Frau eines Mannes werden, dessen Glück mir nicht mehr am Herzen liegt, wie dasjenige eines jeden anderen Menschen?«
Sie trat an den Tisch und öffnete ein Album. Unter den darin befindlichen Photographien befand sich auch diejenige Hellenbach's. Sie betrachtete dieselbe.
»Nicht schön und nicht häßlich, nicht einmal interessant. Er ist ein Offizier gewöhnlicher Begabung, der seine Pflicht thut und in dreißig Jahren sich als Oberst pensioniren lassen wird. An diese unbefriedigende Existenz soll ich gefesselt sein! Was aber kann ich dagegen thun? O, Mutter, Mutter, lebtest Du noch! An Deinem Herzen würde ich nicht umsonst nach Rath und Trost verlangen. Diese kalte Selbstverständlichkeit des Vaters ist weit schlimmer, als wenn er hart und grausam wäre. Ich habe einen Vater, und dennoch bin ich einsam. Mein Herz ist ohne Schutz und Fürsprecher, und gleichwohl ist es ganz allein das Herz, welches über Glück und Unglück zu bestimmen hat.«
Ihr feucht gewordenes Auge war auf das Album gerichtet, in welchem ihre Hand planlos weiterblätterte. Da plötzlich belebte sich ihr Blick. Sie hatte ein Bild aufgeschlagen, welches wie eine stumme und doch beredte Antwort auf ihre Klage ihr entgegenblickte. Es war die Photographie eines Jünglings mit schönen, hochinteressanten, geistreichen Zügen. Seine großen, dunklen Augen sprachen ebensowohl von einer tief empfindenden Seele wie von einer eigenartig ausgeprägten und hoch ausgebildeten Intelligenz. Das Auge des Beschauers war gezwungen, bei diesem Kopfe zu verweilen.
»Gustav!« sagte sie. »Bruder Gustav! Welch ein ganz, ganz anderes ist dieses Porträt! Er, der arme Försterssohn, hat ganz die Prärogative einer fürstlichen Abstammung.«
Je länger ihr Auge auf dem Bilde verweilte, desto inniger und liebevoller wurde der Blick des schönen Mädchens.
»Wenn er Hellenbach wäre!« flüsterte sie.
Sie blickte schnell um sich, als ob sie befürchtete, von Jemand gehört worden zu sein. Sie hatte da einen Gedanken ausgesprochen, welcher zwar als leise, unbestimmte Ahnung in ihrem Herzen gelegen hatte, aber niemals zum greifbaren Ausdruck gekommen war. Und fortgerissen von dieser augenblicklichen Empfindung zog sie das Album empor und drückte einen Kuß auf die Photographie.
»Er kommt; er kommt ja! Bei ihm werde ich den besten Rath erlangen. Hier aber ist es mir zu enge; hier wird mir's bange: ich muß hinaus aus dem Zimmer!«
Sie legte, als gelte es dem Ersticken zu entrinnen, in schneller Hast die Seidenrobe ab und griff zu einem anderen Gewande.
Als die Zofe Ella vorhin durch den Wink des Barons aufgefordert worden war, das Zimmer zu verlassen, hatte sie geahnt, daß die Unterredung zwischen Vater und Tochter eine wichtige sein werde. Darum war sie auf den Gedanken gekommen, draußen zu lauschen, und – sie hatte Alles gehört. Als sie bemerkte, daß der Baron gehen werde, hatte sie sich schleunigst entfernt. Jetzt kehrte sie zurück und beeilte sich, ihrer Herrin beim Umkleiden zu helfen.
»Ich promenire nach dem Tannenstein,« sagte Alma, als sie fertig war. »Man wird mich jetzt wohl nicht bedürfen.«
Sie ging, und das Auge der Zofe folgte ihr, bis sie durch das Thor geschritten war.
»Da ist sie fort, die Braut Hellenbach's, die Schöne, die Unvergleichliche!« murmelte sie. »Sie sah nicht sehr glücklich aus! Und da das Album aufgeschlagen! Ah, das Bildniß Brandt's! Sie hat ihn mit Hellenbach verglichen; sie liebt ihn!«
Die dunklen Augen der Zofe leuchteten in einem tückischen Lichte.
»Und da,« fuhr sie fort, »ein Brief! Sie hat vergessen, ihn einzuschließen. Von wem mag er wohl sein?«
Sie nahm das Papier, öffnete es und las:
»Meine lieben Eltern!
Ihr wißt genau, in welcher Weise bei Euch da oben an der Grenze die Wilderei und Pascherei betrieben wird. Die Schmuggler ziehen in förmlichen bewaffneten Karavanen herüber und hinüber und liefern den Grenzern geradezu Gefechte. Man vermuthet, daß sie eine feste Organisation und ein wirkliches Oberhaupt besitzen. Eine Eingabe des Herrn Barons von Helfenstein, in welcher er um außerordentliche Hilfe bittet, hat der Behörde vollends die Augen geöffnet. Man wird Militär detachiren und hat außerdem beschlossen, einen gewandten Polizeibeamten zu senden, der die heimliche Aufgabe zu lösen hat, den Verbrechern das Handwerk zu legen. Und denkt Euch mein Entzücken: Die Wahl ist auf mich gefallen. Ich habe schleunigst abzureisen und sende Euch kurz vor dem Einpacken diese Zeilen, um Euch von meiner Ankunft zu benachrichtigen. Wenn Ihr sie erhaltet, bin ich bereits unterwegs. In herzlicher Liebe Euer glücklicher
Gustav.«
Die Zofe legte den Brief zusammen und dann wieder an seine vorige Stelle. Es blitzte wie Schadenfreude über ihr Gesicht.
»Wie gut, daß dieser Brief in meine Hände fiel!« flüsterte sie. »Ich muß meinen Bruder warnen. Dann mag Brandt sehen, ob er einen Pascher fängt!«
Jetzt fiel ihr Auge auf die neue Robe, welche Alma wieder abgelegt hatte.
»Welch ein herrliches Kleid!« sagte sie zu sich selbst. »Warum bin nicht ich als die Tochter eines reichen Freiherrn geboren! Welch eine Figur würde ich in diesem Kleide geben! Oder bin ich etwa weniger hübsch, wie diese Alma? Noch gestern erst sagte der Cousin, daß ich nicht nur hübscher, sondern sogar viel, viel schöner sei, als sie. Sie ist nach dem Tannensteine, und vor zwei Stunden kann sie nicht zurück sein. Wie wäre es, wenn ich einmal anprobirte? Ich muß sehen, ob ich es verstehen würde, mich in einer solchen Toilette zu bewegen.«
Sie war eine volle, hohe Brünette von nicht viel über zwanzig Jahren. Sie hatte sehr Recht, sich für eine Schönheit zu halten. Ihr dunkelwelliges Haar, ihre feurigen Augen, ihr etwas scharf gebogenes Näschen, der ein Wenig breite, kräftig gezeichnete Mund, das Alles harmonirte mit der Energie, welche sich in ihren Bewegungen aussprach. Dieses Mädchen mußte einen festen Willen besitzen.
Der so schnell gefaßte Entschluß wurde schleunigst ausgeführt. Sie legte das einfache, schwarze Kleid, welches sie trug, ab und griff dann zur Seidenrobe. Dabei fiel ihr Blick in den hohen Pfeilerspiegel. Sie blieb unwillkürlich mit ausgestrecktem Arme stehen. Ihr Auge leuchtete auf, und um ihre Lippen spielte ein stolzes, selbstgefälliges Lächeln. Sie warf den Kopf wie herausfordernd zurück und sagte:
»Das, ja, das ist die richtige Stellung, um beurtheilen zu können, ob ich häßlich bin! Ich bin schön, schöner als tausend Andere! Dieser kleine und doch kräftige Fuß, dieses volle Bein, die Rundung der Hüften, diese Büste, dieser Arm! Wahrhaftig, ich kann unmöglich wünschen, schöner zu sein! Und wozu und für wen besitze ich diese Schönheit? Um die Frau irgend eines Koches, Kammerdieners oder Leibjägers zu werden? Kann ein solcher Mensch beurtheilen, welchen Schatz er in mir besitzt?«