Der Mann, der alles sah. Deborah Levy

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Der Mann, der alles sah - Deborah  Levy

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war eine Erleichterung, das animalische Aufheulen seines Motors zu hören, als ich wieder auf den Fußweg trat.

      Wenn man bedenkt, dass er es war, der mich beinah umgefahren hatte, war er vielleicht eher derjenige, der besser aufpassen sollte. Ich winkte ihm, doch er winkte nicht zurück. Und was meine junge Freundin angeht, so war ich bloß fünf Jahre älter als Jennifer, was sollte da seine Bemerkung? Und warum wollte er ihr Alter wissen? Oder was ich »beruflich mache«?

      Egal. Ich blickte auf die Notizen in meiner Hand (die immer noch blutete), wo ich aufgeschrieben hatte, dass Stalins Vater Alkoholiker gewesen war und seine Familie misshandelt hatte. Stalins Mutter hatte ihren Sohn Josef in einer griechisch-orthodoxen Priesterschule angemeldet, um ihn vor dem Zorn seines Vaters zu schützen, nachdem er versucht hatte, sie zu erwürgen. Ich konnte meine eigene Handschrift kaum lesen, doch ich hatte eine Passage unterstrichen, die davon handelte, dass Stalin Menschen immer wieder sowohl für ihre bewussten als auch ihre unbewussten Sünden bestrafte – wie zum Beispiel Gedankenverbrechen gegen die Partei.

      Meine linke Hüfte tat jetzt weh.

      Passen Sie auf sich auf, Soorl. Danke für den Rat, Wolfgang.

      Zurück zu meinen Notizen, die jetzt mit Blut von meinem Knöchel beschmiert waren. Josef Stalin (ich hatte das spätnachts geschrieben) bereitete es stets Vergnügen, jemanden zu bestrafen. Er tyrannisierte sogar den eigenen Sohn – mit solcher Grausamkeit, dass der sich zu erschießen versuchte. Stalins Frau erschoss sich auch selbst, erfolgreicher als ihr Sohn, der im Gegensatz zu seiner Mutter am Leben blieb, um von seinem Vater immer wieder tyrannisiert zu werden. Mein eigener verstorbener Vater ist nicht gerade ein Tyrann gewesen. Diese Aufgabe überließ er meinem Bruder Matthew, der immer ein wenig Grausamkeit in petto hatte. Wie Stalin hatte Matthew es auf die eigenen Familienmitglieder abgesehen oder sorgte dafür, ihr Leben so erbärmlich zu machen, dass sie sich schließlich selbst Schaden zufügten.

      Ich saß auf der Mauer vor den EMI-Studios und wartete auf Jennifer. In drei Tagen würde ich nach Ostdeutschland reisen, in die DDR, um an der Humboldt-Universität über die kulturelle Opposition gegen den aufsteigenden Faschismus in den 1930er Jahren zu forschen. Obwohl ich ziemlich fließend Deutsch sprach, hatte man mir einen Dolmetscher zugewiesen. Er hieß Walter Müller. Ich sollte zwei Wochen bei seiner Mutter und Schwester wohnen, die mir ein Zimmer in ihrer Mietwohnung in Ostberlin in der Nähe der Universität angeboten hatten. Walter Müller war ein Grund dafür, dass ich auf dem Zebrastreifen fast überfahren worden wäre. Er hatte mir geschrieben und mitgeteilt, dass seine Schwester, die Katrin hieß – aber die Familie nannte sie Luna –, ein großer Beatles-Fan sei. Seit den 1970ern durften Alben sowohl der Beatles als auch von Bob Dylan in der DDR erscheinen, anders als in den 1950ern und -60ern, als Popmusik von der herrschenden Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands als kulturelle Waffe zur Korrumpierung der Jugend angesehen worden war. Funktionäre waren verpflichtet, alle Texte zu prüfen, bevor die Alben veröffentlicht werden konnten.

      Yeah yeah yeah. Was konnte das wohl bedeuten? Was wurde dort bejaht?

      Es war Jennifers Idee gewesen, ein Foto von mir beim Überqueren des Zebrastreifens auf der Abbey Road für Luna zu machen. Vor einer Woche hatte sie mich gebeten, ihr das ganze Konzept der DDR zu erklären, aber ich wurde abgelenkt. Wir hatten damals in der Küche ihrer Wohnung Erdnüsse karamellisiert, und ich hatte den Zucker anbrennen lassen. Das Rezept war ziemlich kompliziert, und es wies uns an, die Erdnüsse zum kochenden Zuckersirup hinzuzufügen und sie dann in der Herdröhre zu rösten. Jennifer verstand nicht, wie die Menschen eines ganzen Landes hinter einer Mauer eingesperrt werden konnten und nicht ausreisen durften. Während ich mich darüber verbreitete, wie es dazu gekommen sei, dass Deutschland ideologisch und real in zwei Länder geteilt worden war, die durch eine Mauer getrennt waren, kommunistisch im Osten, kapitalistisch im Westen, und wie die kommunistische Regierung die Mauer den »antifaschistischen Schutzwall« nannte, schlüpften ihre Finger unter den Bund meiner Jeans. Ich ließ den Zucker anbrennen, und Jennifer hörte mir nicht richtig zu. Wir hatten beide das Interesse an der Deutschen Demokratischen Republik verloren.

      Ich sah sie mit einer kleinen Aluminium-Trittleiter auf dem Arm auf mich zukommen. Sie hatte die sowjetische Pilotenkappe auf dem Kopf, die ich ihr auf dem Flohmarkt in der Portobello Road gekauft hatte. Ich küsste sie und erzählte ihr in aller Kürze, was passiert war. Jennifer bereitete eine Ausstellung ihrer Fotografien in der Kunsthochschule vor, hatte sich aber den Nachmittag freigenommen, um »das Foto zu schießen«, wie sie es ausdrückte. An ihrem Ledergürtel war eine Kamera befestigt; eine weitere hing ihr um den Hals. Ich schilderte ihr nicht die Details des Fast-Zusammenstoßes, doch sie bemerkte die Schnittwunde auf meinem Knöchel. »Du hast dünne Haut«, sagte sie. Ich erkundigte mich, warum sie eine Trittleiter mitgebracht hatte. Sie erzählte mir, so sei das Originalfoto von den Beatles auf dem Zebrastreifen der Abbey Road im August 1969 um 11 Uhr 30 entstanden. Der Fotograf, Iain MacMillan, hatte die Leiter neben dem Zebrastreifen aufgestellt, und ein Polizist war dafür bezahlt worden, den Verkehr zu lenken. MacMillan bekam zehn Minuten, um das Foto zu machen. Da ich jedoch in keiner Weise berühmt war, konnten wir die Polizei nicht mal um fünf Minuten bitten und mussten daher schnell arbeiten.

      »Ich glaube, es gibt eine Umleitung, und die Abbey Road ist für heute gesperrt.«

      Während ich noch sprach, flitzten drei Autos vorbei, gefolgt von einem freien schwarzen Taxi, einem Motorrad, zwei Fahrrädern und einem mit Holzbrettern beladenen Laster.

      »Yeah, Saul, sie ist definitiv gesperrt«, sagte sie, während sie an ihrer Kamera herumhantierte. »Ich schätze, du siehst eher wie Mick Ronson aus als wie einer von den Beatles, selbst wenn deine Haare schwarz sind und die von Mick blond.«

      Es stimmte, dass meine Haare, die schulterlang waren, von Jennifer vor zwei Tagen im Stil von Bowies Leadgitarristen geschnitten worden waren. Insgeheim war sie stolz auf mein Rockstar-Aussehen, und sie liebte meinen Körper mehr, als ich ihn liebte, was mich sie lieben ließ.

      Als die Straße frei war, stellte sie die Leiter an genau der Stelle auf, wo Wolfgang sein Auto hätte anhalten sollen. Während sie hinaufstieg und ihre Kamera bereit machte, schrie sie Anweisungen: »Steck die Hände in die Jackentaschen! Blick nach unten! Blick geradeaus! Okay, lauf jetzt los! Größere Schritte! Los!« Zwei Autos warteten, doch sie hob die Hand, um sie dort zu halten, während sie eine neue Filmrolle einlegte. Als die Autos zu hupen anfingen, verbeugte sie sich oben auf ihrer Leiter großspurig vor ihnen.

      2

      Um Jennifer für ihre Zeit zu danken, kaufte ich im Fischgeschäft sechs Austern und eine Flasche trockenen Weißwein. Die nächsten Stunden verbrachten wir in ihrem Bett, während ihre Mitbewohnerinnen, Saanvi und Claudia, nicht da waren. Es war eine winzige, dunkle Souterrainwohnung, aber ihnen allen gefiel es dort, und sie schienen gut miteinander auszukommen. Claudia war Veganerin und weichte in der Küche ständig irgendwelche Algen in einer Schüssel mit Wasser ein.

      Als wir uns in voller Montur auf ihrem Bett küssten, rutschte ihr immer wieder die Pilotenkappe über die Augen, was mich richtig scharf machte. Ab und zu blitzten in meinem Kopf blaue Lichter auf, doch davon sagte ich Jennifer nichts, die mit meiner Perlenkette spielte, die ich immer um den Hals trug. Als ich schließlich meine weiße Hose auszog, bemerkte sie, dass ich auf dem rechten Oberschenkel einen großen Bluterguss hatte und beide Knie aufgeschürft waren und bluteten.

      »Was ist denn nun wirklich passiert, Saul?«

      Ich erzählte ihr genauer, wie ich kurz vor ihrem Eintreffen beinah überfahren worden wäre und wie verlegen ich gewesen sei, als ich das Päckchen Kondome aufhob. Sie lachte, schlürfte dann eine Auster und warf die Schale auf den Boden.

      »Wir sollten in diesen Austern nach Perlen suchen«, sagte sie. »Vielleicht könnten

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