Der Mann, der alles sah. Deborah Levy
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»Die ganze Zeit sehe ich mir deine Kunst an.« Ich schrie immer noch. »Ich denke darüber und über dich nach. Ich interessiere mich dafür.«
»Nun, da du so interessiert bist, woran arbeite ich gerade?«
»Weiß ich nicht, du hast es mir nicht erzählt.«
»Du hast nicht gefragt. Also, welche Kamera benutze ich?«
Sie wusste, dass ich keinen blassen Schimmer hatte. Es war auch nicht so, als hätte Jennifer sich besonders für das kommunistische Osteuropa interessiert. Will sagen, sie hatte mich nicht um eine Lektüreliste gebeten, und ich warf ihr das nicht vor.
»O ja«, sagte ich, »du hast ein Negativ von mir gemacht und es dir auf die Schulter geklebt und dich in die Sonne gelegt, dann hast du es abgezogen und hattest so etwas wie ein Tattoo von mir auf deiner Haut.«
Sie lachte. »Es geht immer nur um dich, stimmt’s?«
In gewisser Weise stimmte das. Schließlich fotografierte Jennifer Moreau mich ständig.
Als die quietschende Schlafzimmertür erneut aufsprang, aß Claudia mit einem riesigen Löffel gebackene Bohnen in Tomatensoße direkt aus der Büchse.
»Jennifer« – ich flehte jetzt –, »es tut mir leid. Seit dem Tod meines Vaters habe ich nur versucht, irgendwie durch den Tag zu kommen.«
Wir konnten das Zischen des kochenden Wasserkessels auf der anderen Seite der Tür hören.
»Wie es der Zufall will«, sagte sie, sprang aus dem Bett und schlug die Tür wieder zu, »ist eine Kuratorin aus Amerika in mein Studio gekommen und hat zwei meiner Fotos gekauft. Und sie hat mir für die Zeit nach meinem Examen eine Künstlerresidenz auf Cape Cod in Massachusetts angeboten.«
Deshalb also lag ihr Pass auf dem Schreibtisch.
»Glückwunsch«, sagte ich niedergeschlagen.
Sie sah so begeistert und jung und gemein aus. Wir waren etwas über ein Jahr zusammen, doch mir war klar, dass ich ihr nicht gewachsen war. Als Erstes hatte Jennifer Moreau (französischer Vater, englische Mutter, geboren in Beckenham, Süd-London) mit mir ausgehandelt, dass sie meine erhabene Schönheit (wie sie es ausdrückte) rühmen konnte, wie sie wollte, meine Figur, meine »tiefblauen Augen«, doch ich durfte ihren Körper nie beschreiben oder meiner Bewunderung für ihn Ausdruck verleihen, außer durch Berührungen. Auf diese Weise wollte sie herausfinden, was ich alles für sie empfand und über sie dachte.
Claudia hatte jetzt den heulenden Kessel abgeschaltet. Als ich wieder auf die Wand schaute, entdeckte ich ein auf den bröckelnden Putz geklebtes Foto von Saanvi. Die Souterrainwohnung war feucht, und eine Art Pilz kroch über die Wände von Jennifers Schlafzimmer. Auf dem Foto schwitzte Saanvi auf der Seite liegend in der Sauna. Sie las ein Buch, ihre linke Brustwarze war mit einem kleinen Goldring gepierct.
»Mach dich auf den Weg, Saul. Ich weiß nicht, warum du hier noch herumhängst.«
Jennifer zog einen Kimono mit einem auf den Rücken gestickten Drachen an und fuhr mit den Füßen in ihre Lieblingssandalen, die aus Autoreifen hergestellt waren.
Sie warf mich praktisch hinaus.
Ich fummelte eine ganze Weile am Riegel des Eingangstors herum. Nie schaffte ich es durch dieses Tor – weder rein noch raus; ich hatte beobachtet, wie Jennifer und Claudia darüber hinwegsprangen, wenn sie spät dran waren für ihre Seminare. Ihre andere Mitbewohnerin, Saanvi, hatte kein Problem mit dem Riegel, weil sie geduldig war, aber Jennifer sagte, das sei so, weil sie einen Hochschulabschluss in höherer Mathematik habe und eine Menge über unbegrenzte Zeit wisse.
Die Spätnachmittagssonne tat meinen Augen weh. Meinen tiefblauen Augen. Ich drehte mich plötzlich um, weil ich das Gefühl hatte, Jennifer beobachte mich. Und so war es. Mit einer Kamera in der Hand. In ihrem Drachenkimono und den Sandalen aus Autoreifen stand sie vor der Eingangstür, noch erhitzt vom Liebesspiel mit mir, ihre linke Hand suchte in den Taschen nach den Geleebonbons, die sie immer dort hatte. Ihre Kamera war auf mich gerichtet. Während sie summte und klickte, sagte Jennifer ziemlich theatralisch: »Mach’s gut, Saul. Du bleibst für immer meine Muse.«
Einen Augenblick dachte ich, sie würde mir ein Geleebonbon zuwerfen, wie Zirkusdompteure ihren auftretenden Tieren Leckerli zuwerfen, wenn sie durch einen brennenden Reifen gesprungen sind.
»Ich lasse dir die Abbey-Road-Fotos vor deiner Abreise zukommen. Wegen deines Vaters tut es mir leid. Hoffentlich fühlst du dich bald besser, und vergiss die Dose Ananas für deinen Dolmetscher nicht.«
Die Abbey Road war zwölf Minuten zu Fuß von der Hamilton Terrace entfernt. Irgendetwas zwang mich, zum Ort des Fast-Unfalls zurückzukehren. Ich musste langsam gehen, weil ich merkte, dass ich hinkte und mein weißes Jackett an der Schulter einen Riss hatte. Jennifer Moreau war ohne Mitleid und wusste offenbar viel über mein Leben. Woher wusste sie, dass Walter Müller mich gebeten hatte, eine Dose Ananas in die DDR mitzubringen? Ich konnte mich nicht erinnern, ob ich es ihr erzählt oder ob sie danach gefragt hatte. Es stimmte, dass sie mich vor drei Wochen zur Beerdigung meines Vaters begleitet hatte, sie wusste also von seinem Tod. Ihr eigener Vater war gestorben, als sie zwölf war, so wie ich beim Tod meiner Mutter. Wir hatten uns oft darüber unterhalten, wie es war, im selben Alter ein Elternteil verloren zu haben. Es war etwas Verbindendes zwischen uns, obwohl sie dachte, der Tod ihres Vaters hätte sie befreit, weil er ihr nie erlaubt hätte, die Kunsthochschule zu besuchen. Ich war mir nicht sicher, ob mich der Tod meiner Mutter befreit hatte. Nein, ich konnte nichts Gutes darin entdecken, außer dass ich nie an ihrer Liebe zu mir gezweifelt hatte, was ihre Abwesenheit zu einer noch größeren Katastrophe machte. Wie dem auch sei, das Begräbnis meines Vaters hatte an Jennifers eigenen frühen Verlust erinnert, und ich hatte ihr gegenüber einen Beschützerinstinkt empfunden. Mein gefühlloser Bruder Matthew, auch bekannt als Fat Matt (komplettes englisches Frühstück an sieben Tagen die Woche – drei englische Eier, drei englische Würstchen), hatte die Trauerfeier organisiert, ohne mich zurate zu ziehen.
Ich war stolz gewesen, die glamouröse Jennifer Moreau am Arm zu haben, mit ihrem exotischen französischen Familiennamen, dem himmelblauen Vintage-Hosenanzug und den dazu passenden Wildleder-Plateaustiefeln. Ich hatte Fat Matt und seine armselige Frau mit den zwei jungen Söhnen beobachtet, die in der Kirchenbank vor mir saßen, als wären sie die Royals der Familie, und hatte überlegt, was ich in ihren Augen so falsch gemacht haben könnte, abgesehen davon, dass ich eine Perlenkette trug.
Ich war offenbar ein weniger wichtiges Familienmitglied: unverheiratet, ohne Kinder, in die zweite Reihe verwiesen. Das erinnerte mich an die tief empfundene Einsamkeit während meiner Teenagerzeit, als Matt, der damals noch nicht fett und in den Augen meines Vaters ein bolschewistischer Held war, als Elektriker zu arbeiten begann und gutes Geld verdiente, während ich Probe-Eyeliner in der Drogerie um die Ecke ausprobierte. Als ich dann zur Cambridge University kam, konnte er ein ganzes Haus neu verkabeln, während ich meine Methoden zur Verschleierung meiner Unwissenheit perfektionierte (tiefblaue Augen helfen dabei) und das Beste daraus zu machen versuchte, dass ich als Kind der Arbeiterklasse unter den feinen Pinkeln für Aufregung sorgte wie die Katze im Taubenschlag.
Matt sprach liebevoll-würdigende Worte für unseren Vater. Als ich an der Reihe war, konnte ich, als Familienmitglied mit der höchsten Bildung, nur sagen: »Goodbye,