Der Mann, der alles sah. Deborah Levy
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Ich betrachtete die hohen edwardianischen Villen, die die Hamilton Terrace zu beiden Seiten säumten, während ich die lange, breite Straße hinunterhinkte und mich immer noch zu erinnern versuchte, woher Jennifer von der Dose Ananas wusste, die zu besorgen mir Walter Müller aufgetragen hatte. Hatte sie seinen Brief an mich gelesen? Stasi-Spitzel wurden als Ohren und Augen bezeichnet, Horch und Guck. Es konnte so wirken, als wären meine Augen gegenüber Jennifers Kunst verschlossen, meine Ohren taub, aber in Wirklichkeit bereitete ich fieberhaft meine Reise nach Ostdeutschland vor und bemühte mich um die behördliche Zugangserlaubnis für die Archive, die ich für meine Forschung brauchte. Die Genehmigung dafür hatte ich bekommen, weil ich versprochen hatte, mich in einem Artikel einfühlsam über das reale Alltagsleben in der DDR zu äußern. Statt auf die üblichen Kalter-Krieg-Stereotype würde ich das Augenmerk auf Bildung, Gesundheitsvorsorge und Wohnungen für alle Bürger legen. Das alles hatte ich mit meinem Vater vor seinem Tod besprochen.
»Wenn du jemals gegen einen Faschisten hättest kämpfen müssen, würdest du auch eine Mauer hochziehen, um sie draußen zu halten.«
Als ich ihn daran erinnerte, dass die Mauer errichtet worden war, um die Menschen drinnen, nicht draußen, zu halten, sagte er mir, ich sei die Marie Antoinette der Familie und die Perlenkette wäre keine Hilfe.
»Leg sie ab, Sohn.«
Seiner Ansicht nach waren Meinungs- und Reisefreiheit nicht so wichtig wie die Beseitigung von Ungleichheiten und die Arbeit für das Wohl der Allgemeinheit, aber er konnte ja auch jederzeit mit der Fähre nach Frankreich fahren, wenn er wollte, und keiner würde ihn von einem Wachturm in Dover aus erschießen. Er drückte beide Augen zu, als sowjetische Panzer 1968 durch Prag rollten, weil er offensichtlich dachte, wir wären mit Stalin verwandt.
»Die Sowjetunion ist der Pate der DDR. Die Familie muss sich umeinander kümmern und ihre Mitglieder vor reaktionären Feinden schützen.«
Yeah yeah yeah.
So wie Matt sich um seinen Bruder kümmerte, als die Jungs mich im Oberdeck des Busses an meinem Schlips zu erhängen versuchten. Meinem Vater missfiel, was Jennifer als meine »erhabene Schönheit« beschrieben hatte; aus irgendeinem Grund erregte sie bei ihm Anstoß. Und was es noch schlimmer machte, ich war körperlich schwächer als mein Bruder und trug manchmal einen orangefarbenen Seidenschlips, wenn ich mit meinem Vater ins Pub ging. Einmal hörte ich, wie er ein halbes Bitter für sich und »ein Glas Roten für die Tunte« bestellte. Der Barmann fragte meinen Vater, ob ihm Merlot recht sei, und gab mir das halbe Bitter. Als Kompromiss ließ ich die Wimperntusche weg, wenn ich zu seinen Ansprachen bei den Versammlungen der Kommunistischen Partei ging, und tauschte den orangefarbenen Seidenschlips gegen eine grüne Kappe aus Schlangenlederimitat. Wenn er in meinen frühen Teenagerjahren schlechte Laune hatte (oft), schrie er Matt in Stalin’scher Manier zu: »Hau ihn, hau ihn«, und Matt als sein Komplize boxte mich dann zu Boden. Nach dem Tod unserer Mutter war Matt dann ein ernsthafter Schläger. Er schlug einmal so zu, dass mir die Lippe aufplatzte und ich zwei tiefschwarze Augen hatte, die offenbar akzeptabler waren als meine tiefblauen Augen. Es war, als wären die Panzer meines Vaters für immer im Wohnzimmer unseres Hauses in Bethnal Green geparkt, bereit, mit ihren drohenden Kanonenrohren über meinen unwürdigen dreizehnjährigen Körper hinwegzurollen.
Goodbye, Dad. Was sollte ich auf seiner Trauerfeier sonst sagen?
Viel.
Der Unterschied zwischen meinem Vater und mir, abgesehen von meiner Bildung und den hohen Wangenknochen, war, dass ich daran glaubte, man müsse die Menschen überzeugen und nicht zwingen. Aber jetzt, wo er tot war und nicht mehr Kontra geben konnte, vermisste ich seine feste Überzeugung.
Bis zum Zebrastreifen waren es noch ungefähr sieben Minuten.
Ich musste immer mal wieder stehen bleiben, um zu Atem zu kommen. Jennifers Stimme klang in mir nach. Was ist denn nun wirklich passiert, Saul?
Ich beschloss, mir eine Notiz zu machen, damit ich die Dose Ananas nicht vergaß. Ich würde sie in Großbuchstaben schreiben und mit meinem »Zeus, der Gott der Götter«-Magneten an den Kühlschrank heften, sobald ich nach Hause kam. Als Gegengeschenk, hatte Walter Müller geschrieben, würde er mir ein Glas saure Gurken geben, das Kleinod des Ostens, eingemacht mit Fenchel und Thymian, Zucker und Essig. Ich fragte mich, ob ihm bewusst war, dass die Stasi ganz sicher seine Briefe las. Wenn Stasi-Spitzel als Augen und Ohren bekannt waren, dann schien es so, dass Jennifer mich entsorgt hatte, weil meine Ohren nicht zuhörten und meine Augen geschlossen waren, wenn es um ihre Kunst ging, und wenn ich es mir recht überlegte, und das tat ich, während ich schneller ausschritt, fiel mir nichts ein, was sie mir über ihr laufendes Projekt erzählt hätte, außer dass ich ihre Muse sei. Ich stellte auch fest, dass ich trotz der Mühe, die ich mir mit dem Aufheben der Kondome nach dem Unfall gegeben hatte, sie tatsächlich nicht benutzt hatte. Sie steckten ungeöffnet in der Tasche meines zerrissenen weißen Jacketts.
Es war seltsam tröstlich, zum Zebrastreifen auf der Abbey Road zurückzukehren. Es gab keinen Verkehr, also war es wahrscheinlich, dass die Straße schließlich doch gesperrt worden war.
Mir fiel ein, dass ich, als ich zum ersten Mal auf diesen Übergang getreten war, eine Freundin hatte und nicht hinkte. Als ich auf der Mauer vor den EMI-Studios saß, erinnerte ich mich an die Art, wie der Mann, der mich beinahe umgefahren hatte, mein Haar berührte, als würde er eine Statue oder etwas ohne Herzschlag berühren.
Während ich darüber nachdachte, kam eine Frau auf mich zu und wedelte mit einer nicht angezündeten Zigarette in ihrer Hand. Sie trug ein blaues Kleid und fragte mich nach Feuer. Ihre kurzen blonden Haare waren so hell, dass sie fast silbern wirkten. Ihre Augen waren vom hellsten Grün, wie ein am Strand angespültes Stück Glas. Ich langte in meine Tasche und fand den metallenen Zippo-Anzünder, den ich immer bei mir hatte, eine windsichere, altmodische, plumpe Version des vom amerikanischen Militär im Zweiten Weltkrieg – und später in Vietnam – benutzten Feuerzeugs. Sie packte meine Hand mit dem Feuerzeug und betrachtete die eingravierten Initialen. Ich erklärte, dass es meinem Vater gehört habe, als er noch geraucht hatte, während er sein monatliches Bad nahm. Er sei vor Kurzem gestorben, und ich würde einen kleinen Teil seiner Asche in einer Streichholzschachtel mitnehmen, um sie in Ostberlin zu begraben. Mir zitterten die Hände, während ich sprach. Ich bat sie, sich eine Weile neben mich zu setzen, was sie tat. So hockten wir auf der Mauer vor den EMI-Studios, und unsere Schultern berührten sich. Ich hörte, wie sie ein- und ausatmete. Rauch kam aus ihren Nasenlöchern, wie bei dem Drachen, der auf Jennifers Kimono gestickt war. Sie fragte mich, ob ich ein ängstlicher Mensch sei.
»Nö.«
»Dann nervös?«
Zeilen aus einem Gedicht, von dem ich nicht wusste, dass ich es kannte, kamen mir in den Sinn. Ich zitierte sie laut, für die Frau, die ihre Zigarette rauchte.
»Wir sind die Toten. Vor wenigen Tagen noch
Lebten wir, fühlten den Morgen und sahen den leuchtenden Sonnenuntergang,
Liebten und wurden geliebt …«
Sie nickte, als verhielte ich mich normal, was nicht der Fall war.
»Es stammt von John McCrae«, sagte ich. »Er war ein kanadischer Arzt, doch im Ersten Weltkrieg verpflichtete er sich als Artillerist.«
Ich wandte ihr mein Gesicht zu, und sie wandte sich mir zu, während der Wind die Plastiktüte eines Supermarkts um unsere Füße blies.
»Das