Ellingham Academy - Die Botschaft an der Wand. Maureen Johnson
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Anders als die anderen reichen Mädchen war Francis meistens nett zu Dottie. Kein Vergleich zu Gertie van Coevorden, die sie stets so angewidert musterte, als wäre sie ein wandelnder Lumpenhaufen, und ihren Blick betont langsam von einer geflickten Stelle in ihrer Kleidung zur nächsten wandern ließ. (Dabei hatte Dotties Mutter sich solche Mühe dabei gegeben, ihren Mantel zu reparieren. »Schau mal, Dot, man kann die Naht kaum erkennen! Dieses Garn passt wirklich perfekt, das hab ich bei Woolworth entdeckt. Sieht aus wie neu, findest du nicht? Ich hab die ganze Nacht daran gesessen.«) Unter Gerties Blick jedoch stachen die Nähte ihrer Mutter überdeutlich hervor – ihre schmalen blauen Augen schienen Dotties Familie zu verurteilen, ihre Daseinsberechtigung infrage zu stellen. »Ach, Dottie, du armes Ding!«, stieß sie dann hervor. »Ist dir nicht furchtbar kalt? Wolle ist ja leider längst nicht so warm wie Pelz. Ich habe irgendwo noch einen alten Nerz, den du dir ausborgen kannst.«
Es wäre etwas anderes gewesen, wenn Gertie ihr den Mantel tatsächlich geliehen hätte. Aber so lief das Spiel nicht. Leute wie sie erwähnten solche Dinge vollkommen beiläufig und dann vergaßen sie das Ganze wieder. Damit es besonders wehtat.
Francis dagegen war wirklich nett. Sie ließ Dottie in Ruhe und damit war diese vollauf zufrieden. Wenn sie mal miteinander redeten, was nicht häufig vorkam, dann über interessante Sachen wie Detektivgeschichten. Francis las beinahe genauso gern wie Dottie selbst und ihre Leidenschaft galt jeder Art von Verbrechen, was Dotties Ansicht nach ein äußerst sinnvolles Thema war. Und außerdem teilte Francis ihren Hang zu Heimlichtuereien. Oft hörte Dottie mitten in der Nacht Geräusche aus Francis’ Zimmer, und wenn man dann durch den Türspalt lugte, sah man sie den Flur hinunterschleichen oder aus dem Fenster klettern.
Dieser letzte Punkt war es, der Dottie jetzt dazu trieb, sich wie ferngesteuert aus ihrem Baum gleiten zu lassen und den beiden in sicherem Abstand zu folgen. Vielleicht, überlegte sie, hatte sie das ja von ihrem Onkel, dem Polizisten. »Manchmal hat man einfach so ein Gefühl, Dot«, hatte er mal zu ihr gesagt. »Hör immer auf deinen Instinkt.«
Francis und Eddie hielten auf den wilderen, naturbelassenen Bereich im hinteren Teil des Schulgeländes zu, wo sich lediglich ein paar schmale Pfade durch den Wald schlängelten. Sie gingen in Richtung der Stelle, wo der Berg immer noch weiter abgetragen wurde. Dort lagen riesige Felsblöcke, die offenbar in kleinere Stücke zerschlagen und dann als Baumaterial verwendet wurden. Der Weg war uneben und führte steil bergauf. Dottie folgte ihnen so lautlos wie möglich und griff immer wieder nach Baumstämmen und Wurzeln, um sich den felsdurchsetzten Hang hochzuziehen. Francis und Eddie vor ihr waren zwei Farbkleckse in der Landschaft und dann – waren sie verschwunden.
Einfach so. Urplötzlich. Verschluckt von Bäumen, Felsen und Unterholz.
Sie mussten in einen von Mr Ellinghams Schlupfwinkeln abgetaucht sein, den Dottie selbst noch nicht entdeckt hatte. Ein Kampf zwischen ihrer Angst, erwischt zu werden, und ihrer Neugier trug sich in ihrem Innern aus. Kurz dachte sie darüber nach, einfach an ihr Leseplätzchen zurückzukehren, aber ihr war klar, dass sie das nicht übers Herz bringen würde. Also ging sie ein Stück zurück bis zu einem Punkt, an dem sie die beiden mit Sicherheit noch gesehen hatte, und versteckte sich hinter einem Baum.
Sie wartete über zwei Stunden. Tatsächlich war sie schon längst wieder in ihr Buch vertieft, als sie plötzlich Schritte hörte und sich gerade noch rechtzeitig ducken konnte. Flüsternd und lachend eilten die beiden an ihr vorbei. Francis hatte eine Tasche dabei und trug ein Buch unter dem Arm.
»Wir sind spät dran«, hörte sie Francis sagen. »Das gibt Ärger. Schnell jetzt.«
»Einmal noch, im Stehen am Baum, wie die Tiere …«
»Eddie …« Francis schob ihn kichernd von sich und huschte weiter. Bei dem Gerangel fiel etwas aus Francis’ Buch, klein und dünn wie Laub.
Als die beiden weg waren, trat Dottie aus ihrem Versteck und hob die Sachen auf. Es waren Fotografien. Sie zeigten Francis und Eddie in Posen, die Dottie bekannt vorkamen – jeder hatte schließlich die Bilder von Bonnie und Clyde gesehen, dem berühmten Gangsterpärchen. Auf einem davon hielt Francis in ihrer Rolle als Bonnie Eddie auf einer Armlänge Abstand. Ihre ausgestreckte Hand berührte beinahe sein Hemd. Eddie hatte ein seltsam schiefes Lächeln aufgesetzt und seinen Hut weit in den Nacken geschoben. Voller Verlangen blickte er Francis an. Das Foto ähnelte dem echten dermaßen, dass die Unterschiede – wie die fehlende Waffe – umso deutlicher hervortraten. Die beiden waren nicht Bonnie und Clyde, aber Dottie konnte spüren, wie sehr sie es sich wünschten.
Die Fotos hafteten leicht zusammen. Dottie entdeckte Klebstoffrückstände an den Rändern.
Sie lehnte sich an einen Baum und studierte die Bilder, ließ jedes Detail auf sich wirken. Wie schimmernde Fenster ins Leben anderer Menschen wiesen sie ihr den Weg. Auch wenn Dottie keine Ahnung hatte, wohin.
Sie musste sich beeilen. Es war schon fast Zeit fürs Abendessen. Sie steckte die Fotos in die Tasche und hastete zurück Richtung Minerva. Dort angekommen, überlegte sie, die Bilder unter Francis’ Tür hindurchzuschieben. Schließlich gehörten sie ihr.
Nein. Das wäre zu seltsam und damit würde sie sich nur verraten. Und aus irgendeinem Grund … wollte sie die Fotos für ihre Sammlung haben. Sie schlüpfte in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich, dann kniete sie sich auf den Boden und zog die Fußleiste von der Wand.
Francis selbst hatte Dottie den Tipp gegeben, Sachen, von denen sie nicht wollte, dass sie in die falschen Hände gerieten, in der Wand zu verstecken. Die Fußleisten ließen sich leicht lösen. Die reichen Mädchen bunkerten dahinter ihren Gin und ihre Zigaretten. Dottie hingegen bewahrte dort ihre Dose auf – mit ihrer Sammlung schöner Dinge, die sie auf ihren Streifzügen gefunden hatte. Sie legte die Bilder dazu und schob die Dose zurück in ihr Versteck.
Irgendwann würde sie Francis alles zurückgeben, beschloss sie. Bald. Spätestens zum Schulabschluss.
Sie hatte alle Zeit der Welt.
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