Der Untertan. Heinrich Mann
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»Sie verkehren mit ihnen?« fragte Diederich, und er meinte es höhnisch. Aber Buck erklärte einfach, daß er zuweilen in die Offiziersmesse geladen werde. Er zuckte die Achseln. »Ich gehe hin, weil ich es für nützlich halte, mich in allen Lagern umzusehen. Andererseits verkehre ich viel mit Sozialisten.« Er lächelte wieder. »Manchmal möchte ich nämlich General werden und manchmal Arbeiterführer. Auf welche Seite ich schließlich fallen werde, darauf bin ich selbst neugierig.« Und er trank das zweite Glas Cognac aus. »Ein ekelhafter Mensch«, dachte Diederich. »Und Agnes in der Dunkelkammer.« Er sagte: »Mit Ihren Mitteln steht es Ihnen ja frei, sich in den Reichstag wählen zu lassen oder was Ihnen sonst Spaß macht. Ich bin auf praktische Arbeit angewiesen. Die Sozialdemokratie betrachte ich übrigens als meinen Feind, denn sie ist der Feind des Kaisers.«
»Wissen Sie das ganz genau?« fragte darauf Buck. »Ich traue eher dem Kaiser eine heimliche Liebe für die Sozialdemokratie zu. Er wäre gern selber der erste Arbeiterführer geworden. Sie haben nur nicht gewollt.«
Diederich empörte sich. Das sei beleidigend für Seine Majestät. Aber Buck ließ sich nicht stören. »Erinnern Sie sich nicht, wie er Bismarck gegenüber gedroht hat, er wolle den reichen Leuten seinen militärischen Schutz entziehen? Er hat, wenigstens anfangs, grade solche Rancüne gegen die Reichen gehabt, wie die Arbeiter – wenn auch natürlich aus abweichenden Gründen, weil er sich nämlich schwer damit abfindet, daß auch andere Macht haben.«
Den Ausrufen, die in Diederichs Mienen standen, kam Buck zuvor. »Glauben Sie bitte nicht«, sagte er lebhafter, »daß Antipathie aus mir spricht. Es ist im Gegenteil Zärtlichkeit: eine Art feindlicher Zärtlichkeit, wenn Sie wollen.«
»Verstehe ich nicht«, sagte Diederich.
»Nun ja: wie man sie für jemand hat, bei dem man seine eigenen Fehler wiederfindet, oder nennen Sie es Tugenden. Jedenfalls sind wir jungen Leute jetzt alle so wie unser Kaiser, daß wir nämlich unsere Persönlichkeit ausleben möchten und doch ganz gut fühlen, Zukunft hat nur die Masse. Einen Bismarck wird es nicht mehr geben, und auch keinen Lassalle mehr. Vielleicht sind es die Begabteren unter uns, die sich das heute noch ableugnen möchten. Er jedenfalls möchte es sich ableugnen. Und wenn einem solche Unmenge Macht in den Schoß gefallen ist, wäre es auch wirklich Selbstmord, sich nicht zu überschätzen. Aber in tiefster Seele hat er sicher seine Zweifel an der Rolle, die er sich zumutet.«
»Rolle?« fragte Diederich. Buck merkte es gar nicht.
»Denn die kann ihn weit führen, da sie in der Welt, wie sie heute nun einmal ist, verdammt paradox wirken muß. Diese Welt erwartet von keinem Einzelnen irgend mehr als von seinem Nachbarn. Auf Niveau kommt es an, nicht auf Auszeichnung, und am allerwenigsten auf große Männer.«
»Erlauben Sie!« Diederich warf sich in die Brust. »Und das Deutsche Reich, hätten wir das ohne große Männer? Hohenzollern sind immer große Männer.« – Buck verzog schon wieder den Mund, wehmütig und skeptisch. »Dann müssen sie sich in acht nehmen. Und wir anderen auch. Der Kaiser steht, auf seine Verhältnisse übertragen, vor derselben Frage wie ich. Soll ich General werden und mein ganzes Leben auf einen Krieg einrichten, der voraussichtlich nie mehr geführt werden wird? Oder ein womöglich genialer Volksführer, während das Volk doch schon so weit ist, daß es auf die Genies verzichten kann? Beides wäre Romantik, und Romantik führt bekanntlich zum Bankerott.« Buck trank zwei Cognacs nacheinander.
»Was soll ich also werden?«
»Ein Alkoholiker«, dachte Diederich. Er fragte sich, ob es nicht seine Pflicht sei, Buck einen Krach zu machen. Aber Buck trug Uniform! Auch würde der Lärm vielleicht Agnes hervorgescheucht haben, und was konnte dann alles entstehen! Immerhin beschloß er, sich Bucks Äußerungen genau zu merken. Dachte der Mensch mit solchen Gesinnungen Karriere zu machen? Diederich erinnerte sich, daß auf der Schule Bucks deutsche Aufsätze, die zu geistreich waren, ihm ein unerklärtes, aber tiefes Mißtrauen eingegeben hatten. »Stimmt«, dachte er, »so ist er geblieben. Ein Schöngeist. Die ganze Familie ist so.« Die Frau des alten Buck war eine Jüdin gewesen, die Theater gespielt hatte. Und Diederich fühlte sich nachträglich gedemütigt durch das herablassende Wohlwollen des alten Buck, beim Begräbnis seines Vaters. Auch der junge demütigte ihn, fortwährend und mit allem: mit seinen überlegenen Redensarten, seinen Manieren, seinem Verkehr bei den Offizieren. War er ein Herr von Barnim? Er war auch nur aus Netzig. »Ich hasse die ganze Familie!« Und Diederich betrachtete aus gekniffenen Lidern dies fleischige Gesicht mit der weich gebogenen Nase und den feucht glänzenden Augen, die sannen. Buck stand auf. »Nun, wir sehen uns zu Hause wieder. Nächstes oder übernächstes Semester mache ich mein Examen, und was bleibt dann weiter übrig, als Rechtsanwalt spielen in Netzig … Und Sie?« fragte er. Diederich erklärte streng, daß er seine Zeit nicht zu verlieren und noch im Sommer seine Doktorarbeit abzuschließen denke. Damit führte er Buck hinaus. »Ein dummer Kerl bist du doch nur«, dachte er. »Merkst gar nicht, daß ich ein Mädchen bei mir habe.« Er kehrte zurück, froh seiner Überlegenheit über Buck und auch über Agnes, die im Dunkeln gewartet und nicht gemuckt hatte.
Wie er aber die Tür öffnete, hing sie über einem Stuhl, ihre Brust ging heftig, und mit dem Taschentuch unterdrückte sie das Keuchen. Sie sah ihm entgegen, aus geröteten Augen. Er sah: sie war da drinnen fast erstickt, und sie hatte geweint, – indes er hier draußen getrunken und unnützes Zeug geredet hatte. Seine erste Regung war maßlose Reue. Sie liebte ihn! Da saß sie und liebte ihn so sehr, daß sie alles ertrug! Er war im Begriff, die Arme zu erheben, vor sie hinzustürzen und sie weinend um Verzeihung zu bitten. Rechtzeitig hielt er sich zurück aus Furcht vor der Szene und der sentimentalen Stimmung nachher, die ihn wieder mehrere Arbeitstage kostete und ihr die Oberhand gab. Er tat ihr nicht den Willen! Denn natürlich übertrieb sie absichtlich. So küßte er sie flüchtig auf die Stirn und sagte: »Du bist schon da? Ich hab dich gar nicht kommen gesehen.« Sie zuckte auf, wie um etwas zu erwidern, aber sie schwieg. Darauf erklärte er, es sei gerade jemand fortgegangen. »So ein Judenbengel, der sich aufspielt! Einfach ekelhaft!« Diederich lief im Zimmer umher. Um Agnes nicht ansehen zu müssen, lief er immer schneller und redete immer heftiger. »Das sind unsere schlimmsten Feinde! Die mit ihrer sogenannten feinen Bildung, die alles antasten, was uns Deutschen heilig ist! Solch ein Judenbengel kann froh sein, daß wir ihn dulden. Soll er seine Pandekten büffeln und die Schnauze halten. Auf seine schöngeistigen Schmöker huste ich!« schrie er noch lauter, mit der Absicht, auch Agnes zu kränken. Da sie nicht antwortete, nahm er einen neuen Anlauf. »Das kommt aber alles, weil jeder mich jetzt zu Hause findet. Immer muß ich deinetwegen auf der Bude hocken!«
Agnes sagte schüchtern: »Wir haben uns schon sechs Tage nicht gesehen. Sonntag bist du wieder nicht gekommen. Ich fürchte, du hast mich nicht mehr lieb.« Er blieb vor ihr stehen. Von oben herab: »Mein liebes Kind, daß ich dich liebhabe, brauch ich dir wohl wirklich nicht mehr zu versichern. Aber eine andere Frage ist es, ob ich darum auch Lust habe, jeden Sonntag deinen Tanten beim Häkeln zuzusehen und mit deinem Vater über Politik zu reden, wovon er nichts versteht.« Agnes senkte den Kopf. »Früher war es so schön. Du standest dich schon so gut mit Papa.« Diederich drehte ihr den Rücken zu und sah aus dem Fenster. Das war es eben: er fürchtete zu gut zu stehen mit Herrn Göppel. Durch seinen Buchhalter, den alten Sötbier, wußte er, daß Göppels Geschäft bergab ging. Seine Zellulose taugte nichts mehr, Sötbier bezog sie nicht mehr von ihm. Da wäre ein Schwiegersohn wie Diederich ihm freilich gelegen gekommen. Diederich fühlte sich umgarnt von diesen Leuten. Auch von Agnes! Er hatte sie im Verdacht mit dem Alten zusammenzustecken. Entrüstet