In Fesseln. John Galsworthy

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In Fesseln - John Galsworthy Forsyte

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noch.«

      Irene nickte. Sie gingen weiter, die Galerie hinauf, und kamen in einen großen Raum mit einem kleinen Bett und mehreren Fenstern.

      »Das ist mein Zimmer«, sagte er. Die Wände waren behangen mit Fotos von Kindern und mit Aquarellzeichnungen, und er fügte unsicher hinzu: »Die sind von Jo. Der Ausblick ist erstklassig. Bei klarem Wetter kann man die Tribüne in Epsom sehen.«

      Die Sonne war nun hinter dem Haus verschwunden und über die Aussicht hatte sich ein strahlender Schleier gelegt, das Nachleuchten des langen und glücklichen Tages. Es waren wenige Häuser zu sehen, doch die Felder und Bäume glitzerten sanft bis hin zu den Hügeln, die sich in der Ferne abzeichneten.

      »Das Land verändert sich«, sagte er unvermittelt, »aber es wird immer noch da sein, wenn wir alle weg sind. Sieh dir diese Drosseln an – die Vögel singen hier so schön am Morgen. Ich bin froh, dass ich London hinter mir gelassen habe.«

      Ihr Gesicht war dicht an der Fensterscheibe und er war betroffen, welch kummervoller Ausdruck darauf lag. ›Ich wünschte, ich könnte sie glücklich machen!‹, dachte er. ›Ein hübsches Gesicht, aber traurig!‹ Und dann nahm er seine Kanne mit heißem Wasser und ging hinaus in die Galerie.

      »Hier ist Junes Zimmer«, sagte er, als er die nächste Tür öffnete und die Kanne abstellte. »Ich denke, du findest alles.« Dann schloss er hinter ihr die Tür und ging zurück in sein Zimmer. Während er seine Haare mit seiner großen Bürste aus Ebenholz kämmte und seine Stirn mit Eau de Cologne betupfte, dachte er nach. Sie war auf so seltsame Weise hier aufgetaucht – eine Art Geschenk des Himmels, mysteriös, gar romantisch, als sei sein Wunsch nach Gesellschaft, nach Schönheit, erfüllt worden, durch was auch immer es war, das so einen Wunsch erfüllte. Und er straffte seine noch immer aufrechte Gestalt vor dem Spiegel, bürstete über seinen großen weißen Schnurrbart, strich etwas Eau de Cologne über seine Augenbrauen und läutete.

      »Ich habe vergessen, Bescheid zu geben, dass heute eine Dame mit mir zu Abend isst. Die Köchin soll etwas mehr machen. Und sagen Sie Beacon, er soll den Landauer und zwei Pferde für halb elf bereit machen, um sie damit später zurück in die Stadt zu bringen. Schläft Holly?«

      Das Hausmädchen glaubte, sie schlafe nicht. Und der alte Jolyon ging die Galerie entlang, schlich sich auf Zehenspitzen zum Kinderzimmer und öffnete die Tür, deren Angeln er immer extra ölen ließ, sodass er abends lautlos hinein- und hinausschlüpfen konnte.

      Doch Holly schlief und lag da wie eine kleine Madonna von der Art, die die alten Maler nicht von Venus unterscheiden konnten, wenn sie sie fertiggestellt hatten. Ihre langen dunklen Wimpern ruhten fest auf ihren Wangen, auf ihrem Gesicht war vollkommener Frieden – ihrem kleinen Körper ging es offensichtlich wieder gut. Und der alte Jolyon stand im Halbdunkel des Zimmers und bewunderte sie! Es war so bezaubernd, feierlich und liebevoll, dieses kleine Gesicht. Er war in besonderem Maße mit der Fähigkeit gesegnet, in den Jungen wieder neues Leben zu finden. Sie waren für ihn sein zukünftiges Leben – in dem Ausmaß, wie sein grundsätzlich heid­nischer Verstand ein zukünftiges Leben zulassen konnte.

      Da lag sie und hatte noch alles vor sich, und in ihren zarten Adern floss sein Blut – ein Teil davon. Da lag sie, seine kleine Gefährtin, um so glücklich gemacht zu werden, wie er sie nur glücklich machen konnte, damit sie nichts außer Liebe kannte. Sein Herz wurde weit und er ging hinaus, wobei er versuchte, keine Geräusche mit seinen Lacklederschuhen zu machen. Im Korridor überkam ihn ein sonderbarer Gedanke: Die Vorstellung, dass aus Kindern solche Menschen werden sollten wie die, denen Irene half, wie sie ihm gesagt hatte! Frauen, die alle einmal so klein gewesen waren wie dieses kleine Mädchen, das hier schlief! ›Ich muss ihr einen Scheck geben!‹, dachte er sich. ›Ich kann den Gedanken an sie nicht ertragen!‹

      Er hatte Gedanken an jene armen Ausgeschlossenen noch nie ertragen können, zu sehr verletzten sie den Kern wahren Edelmuts, der unter den Schichten der Anpassung an den Besitzinstinkt verborgen lag, zu schwer verletzten sie sein Innerstes – eine Liebe zur Schönheit, die auch jetzt noch sein Herz erbeben ließ, wenn er an diesen Abend in Gesellschaft einer hübschen Frau dachte. Und er ging nach unten, durch die Schwingtür, zu den hinteren Räumen. Dort, im Weinkeller, war ein deutscher Weißwein, von dem die Flasche mindestens zwei Pfund wert war, ein Steinberger Kabinett, besser als jeder Johannisberger, der jemals eine Kehle hinuntergelaufen war, ein Wein von vollendetem Bukett, süß wie eine Nektarine – wie Nektar gar!

      Er nahm eine Flasche davon heraus, vorsichtig wie ein Baby, und hielt sie prüfend gegen das Licht. Diese Flasche, eingehüllt in einen Staubmantel, weiche Farbe, schlanker Hals, bereitete ihm große Freude. Drei Jahre Zeit, um seit dem Umzug von der Stadt hierher wieder zu lagern – sollte in erstklassigem Zustand sein! Vor fünfunddreißig Jahren hatte er ihn gekauft – Gott sei Dank hatte er seinen guten Gaumen noch, er hatte sich das Recht erworben, ihn zu trinken. Sie würde ihn zu schätzen wissen; hatte nicht einmal einen Ansatz von Säure. Er wischte die Flasche ab, zog den Korken eigenhändig, beugte seine Nase hinunter, atmete den Duft ein und ging zurück in das Musikzimmer.

      Irene stand am Klavier. Sie hatte ihren Hut und das Spitzentuch, das sie getragen hatte, abgelegt, sodass nun ihr goldfarbenes Haar und ihr blasser Nacken zu sehen waren. In ihrem grauen Kleid gab sie vor dem Rosenholz des Klaviers ein hübsches Bild ab für den alten Jolyon.

      Er reichte ihr seinen Arm und sie machten sich feierlich auf den Weg. In dem Zimmer, das so angelegt worden war, dass dort vierundzwanzig Personen bequem essen konnten, stand nun nur noch ein kleiner runder Tisch. In seiner momentanen Einsamkeit belastete der große Esstisch den alten Jolyon. Er hatte veranlasst, dass er weggeräumt wurde, bis sein Sohn wieder zurück war.

      Er aß hier für gewöhnlich alleine, nur zwei wirklich gute Nachbildungen raffaelischer Madonnen leisteten ihm Gesellschaft. Das war die einzige trostlose Zeit seines Tages bei diesem Sommerwetter. Er war nie ein großer Esser gewesen wie dieser Riesenkerl Swithin, oder Sylvanus Heythorp, oder Anthony Thornworthy, jene Gefährten der alten Zeiten. Und alleine zu essen, beobachtet von den Madonnen, war für ihn nur eine traurige Beschäftigung, die er schnell hinter sich brachte, um zu den eher geistigen Genüssen seines Kaffees und seiner Zigarre übergehen zu können.

      Doch dieser Abend heute war anders! Mit funkelnden Augen sah er sie über den kleinen Tisch hinweg an und sprach von Italien und der Schweiz, erzählte Geschichten von seinen Reisen dorthin und von anderen Erlebnissen, von denen er seinem Sohn und seiner Enkelin nicht mehr berichten konnte, da sie sie schon kannten. Dieses neue Publikum bedeutete ihm sehr viel.

      Er war nie einer jener alten Männer geworden, die immer nur in den Gefilden ihrer Erinnerungen umherwanderten. Da ihn selbst Menschen ohne Feingefühl schnell ermüdeten, vermied er es instinktiv, andere zu ermüden, und seine naturgegebene Koketterie gegenüber Schönheit ließ ihn bei einer Frau ganz besonders darauf achten. Er hätte sie gerne aus der Reserve gelockt, doch obwohl sie immer wieder zustimmend murmelte und lächelte und seine Geschichten sie zu unterhalten schienen, merkte er immer jene geheimnisvolle Unnahbarkeit, die die Hälfte ihrer Anziehungskraft ausmachte. Er konnte es nicht ausstehen, wenn Frauen mit ihren Schultern kokettierten und schöne Augen machten und drauflosquasselten. Oder wenn Frauen verbissen und rechthaberisch waren und einem sagen wollten, wo es langging.

      Es gab nur eine Eigenschaft, die er bei einer Frau ansprechend fand – Charme. Und je stiller dieser Charme war, desto besser. Und diese Frau hatte Charme, so schattenhaft wie das Nachmittagssonnenlicht auf jenen italienischen Bergen und Tälern, die er so gemocht hatte. Und durch das Gefühl, dass sie gewissermaßen für sich war, zurückgezogen, schien sie ihm näher zu sein, eine seltsam wünschenswerte Gefährtin.

      Wenn ein Mensch sehr alt und aus dem Rennen ausgeschieden ist, dann fühlt er sich gerne sicher vor den Rivalitäten der Jugend, denn im Herzen der Schönheit möchte er noch immer an erster Stelle stehen. Und er trank

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