In Fesseln. John Galsworthy
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Es wurde gerade dunkel, als sie zurück ins Musikzimmer gingen. Und die Zigarre im Mund, sagte der alte Jolyon: »Spiel mir etwas von Chopin.«
An den Zigarren, die er raucht, und den Komponisten, die er liebt, erkennt man die Beschaffenheit der Seele eines Mannes. Der alte Jolyon konnte weder starke Zigarren noch Wagners Musik ausstehen. Er liebte Beethoven und Mozart, Händel und Gluck und Schumann und aus irgendeinem unerklärlichen Grund die Opern von Meyerbeer. Doch in den letzten Jahren hatte Chopin ihn in seinen Bann gezogen, so, wie er der Malerei Botticellis erlegen war.
Er war sich bewusst, dass er durch sein Nachgeben gegenüber diesen Vorlieben vom Standard des Goldenen Zeitalters abwich. Ihre Poesie entsprach nicht der von Milton und Byron und Tennyson oder der von Raphael und Tizian oder Mozart und Beethoven. Sie war gewissermaßen verschleiert. Ihre Poesie traf einen nicht direkt ins Gesicht, sondern ließ ihre Finger unter die Rippen gleiten und grub und wühlte und brachte das Herz zum Schmelzen. Und er war sich zwar nie sicher, ob das gesund war, aber er nahm dieses Herzpochen gerne in Kauf, solange er nur die Bilder des einen betrachten oder die Musik des anderen hören konnte.
Irene setzte sich ans Klavier unter die elektrische Lampe mit perlgrauem Schirm und der alte Jolyon setzte sich in einen Sessel, von dem aus er sie sehen konnte, schlug die Beine übereinander und zog langsam an seiner Zigarre. Sie ließ für einen Moment ihre Hände auf den Tasten ruhen und suchte offenbar in ihrer Erinnerung nach einem Stück, das sie für ihn spielen konnte. Dann fing sie an zu spielen und der alte Jolyon wurde von einer angenehmen Traurigkeit ergriffen, an die kaum etwas anderes in dieser Welt herankam. Langsam verfiel er in einen Trancezustand, der nur in langen Abständen von der Bewegung unterbrochen wurde, mit der er die Zigarre aus seinem Mund nahm und wieder hineinsteckte.
Sie war da, in ihm der Weißwein, und es roch nach Tabak. Doch da war auch noch eine Welt voller Sonnenschein, der in Mondlicht überging, mit Teichen, an denen Störche waren, und darüber bläuliche Bäume, leuchtende Farbpunkte weinroter Rosen, Lavendelfelder, in denen milchweiße Kühe grasten, und eine schemenhafte Frau mit dunklen Augen und weißem Nacken lächelte und streckte ihre Arme aus, und aus der Luft, die wie Musik war, fiel ein Stern herab und blieb am Horn einer Kuh hängen. Er öffnete die Augen. Wunderschönes Stück. Sie spielte gut – ihr Anschlag war engelsgleich! Und er machte die Augen wieder zu. Er fühlte sich auf wundersame Weise traurig und glücklich zugleich, wie man sich fühlt, wenn man unter einer Linde in voller Blüte steht. Nicht das eigene Leben noch einmal leben, einfach nur dastehen, sich im Lächeln der Augen einer Frau sonnen und das Bukett genießen! Und er schüttelte seine Hand. Der Hund Balthasar hatte sich hochgestreckt und sie abgeleckt.
»Wunderschön!«, sagte er. »Spiel weiter – noch etwas von Chopin!«
Sie fing wieder an zu spielen. Dieses Mal fiel ihm die Ähnlichkeit zwischen ihr und Chopin auf. Ihr Spiel hatte dasselbe sanfte Wiegen, das ihm auch bei ihrem Gang aufgefallen war, genau wie die Nocturne, die sie gewählt hatte, und dazu die sanfte Dunkelheit ihrer Augen, das Licht auf ihrem Haar, wie der Mondschein eines goldenen Mondes. Eine lange blaue Spirale stieg von seiner Zigarre empor und löste sich auf. ›Und so enden wir!‹, dachte er. ›Keine Schönheit mehr! Nichts mehr?‹
Wieder hörte Irene auf, zu spielen.
»Möchtest du etwas von Gluck hören? Er hat immer in einem sonnenhellen Garten komponiert, mit einer Flasche Rheinwein neben ihm.«
»Oh ja! Wie wär’s mit Orpheus? Er war nun inmitten von Feldern mit goldenen und silbernen Blumen, weiße Wesen wiegten sich im Sonnenlicht, leuchtend bunte Vögel flogen umher. Alles war Sommer. Anhaltende Wogen von Lieblichkeit und Trauer durchfluteten seine Seele. Von der Zigarre viel etwas Asche herab, und als er ein Seidentaschentuch herausholte, um sie wegzuwischen, stieg ihm ein Duftgemisch in die Nase, das wie Schnupftabak und Eau de Cologne roch. ›Ach!‹, dachte er, ›Nachsommer – das ist alles!‹ Und er sagte: »Du hast noch nicht Che faro für mich gespielt.«
Sie antwortete nicht, rührte sich nicht. Er bemerkte etwas – eine seltsame Betroffenheit. Plötzlich sah er, wie sie aufstand und sich abwandte, und stechende Reue durchfuhr ihn. Was war er doch für ein taktloser Trampel! Wie Orpheus suchte natürlich auch sie ihre verlorene Liebe in der Welt der Erinnerung! Und zutiefst ergriffen erhob er sich aus seinem Sessel. Sie war zu dem großen Fenster am anderen Ende des Zimmers gegangen. Er folgte ihr vorsichtig. Sie hatte die Hände über der Brust gefaltet. Er konnte nur ihre Wange sehen, sie war sehr blass. Und ganz bewegt sagte er: »Na, na, mein Liebes!« Die Worte waren ihm automatisch rausgeschlüpft, denn das sagte er auch immer zu Holly, wenn sie sich wehgetan hatte, doch ihre Wirkung war sogleich erschreckend. Sie hob ihre Hände, vergrub ihr Gesicht darin und schluchzte.
Der alte Jolyon stand da und sah sie mit seinen mit dem Alter sehr eindringlich gewordenen Augen an. Die heftige Scham, die sie ob ihrer Verlassenheit zu empfinden schien, so ganz anders als die Kontrolliertheit und der Gleichmut ihres gesamten Wesens, war so, als wäre sie noch nie vor jemand anderem zusammengebrochen.
»Na, na – na, na!«, murmelte er und streckte ehrfurchtsvoll die Hand nach ihr aus. Sie drehte sich um und lehnte sich mit ihren Armen, die ihr Gesicht bedeckten, an ihn. Der alte Jolyon stand ganz still da, eine seiner dünnen Hände auf ihrer Schulter. Sollte sie sich die Seele aus dem Leib weinen – das würde ihr guttun.
Und der Hund Balthasar setzte sich verwundert auf sein Hinterteil, um sie zu beäugen.
Das Fenster war noch offen, die Vorhänge waren nicht zugezogen worden, das letzte Tageslicht schien von draußen herein und vermischte sich mit dem schwachen Licht der Lampe. Es roch nach frisch gemähtem Gras. Mit der Weisheit eines langen Lebens sagte der alte Jolyon nichts. Selbst Trauer war irgendwann mit den Tränen weggewaschen. Nur die Zeit heilte den Kummer – die Zeit, die jede Stimmung vorübergehen sah, jedes Gefühl, das kam und ging. Die Zeit ließ die Dinge in Frieden ruhen.
Es kamen ihm die Worte ›So wie der Hirsch nach Wasser schreiet‹ in den Sinn – doch sie nutzten ihm nichts. Dann bemerkte er den Duft von Veilchen, und er wusste, dass sie ihre Tränen wegwischte. Er streckte sein Kinn nach vorne, presste seinen Schnurrbart gegen ihre Stirn, und spürte, wie ein Schütteln durch ihren ganzen Körper ging, wie wenn ein Baum die Regentropfen abschüttelte. Sie führte seine Hand an ihre Lippen, als wolle sie sagen: »Es ist vorüber! Verzeih mir!«
Der Kuss erfüllte ihn mit einem seltsamen Gefühl von Trost. Er führte sie zurück an den Platz, an dem sie so von ihren Gefühlen ergriffen worden war. Und der Hund Balthasar folgte ihnen und legte den Knochen von einem der Koteletts, die sie gegessen hatten, vor ihre Füße.
Bestrebt, die Erinnerung an jenes Aufwallen der Gefühle auszulöschen, fiel ihm nichts Besseres ein als Porzellan. Und so ging er mit ihr langsam von Vitrine zu Vitrine, nahm immer wieder einzelne Stücke heraus, Meißener und Lowestoft und Chelsea, und drehte und wendete sie in seinen dünnen, venendurchzogenen Händen, deren leicht fleckige Haut so alt aussah.
»Das habe ich bei Jobson gekauft«, sagte er dann, »hat mich dreißig Pfund gekostet. Es ist sehr alt. Der Hund lässt seine Knochen überall liegen. Dieses alte Schiffchen habe ich bei der Versteigerung erworben, als dieser feine Taugenichts, der Marquis, in Geldnot geraten war. Aber daran erinnerst du dich nicht mehr. Das hier ist ein schönes Stück aus Chelsea-Porzellan. Na, und was meinst du, was das hier ist?« Und er war erleichtert, denn er spürte, dass sie sich mit ihrem guten Geschmack wirklich für diese Stücke interessierte. Schließlich beruhigte nichts die Nerven so gut wie ein Porzellanstück unklarer Herkunft.
Als das Knirschen der Kutschenräder zu hören war, sagte er: »Komm bitte wieder. Komm doch zum Mittagessen vorbei, dann kann ich