Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes. Georges Simenon
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Sie hatten den Seufzer nicht gehört. Nur erahnt. Und nun ahnten, spürten sie auch die fieberhafte Hast des Mannes, der endlich über das Kleiderpaket gestolpert war und das Seil entdeckt hatte.
An den stetigen Schritten des Wachtpostens konnten sie das Verstreichen der Zeit ermessen. Leise wagte der Richter eine Frage:
»Und Sie sind sicher, dass …«
Maigrets Blick ließ ihn verstummen. Das Seil bewegte sich. Ein heller Fleck erschien auf der Mauer: das Gesicht des Häftlings Nummer 11, der sich am Seil emporhangelte.
Wie lang das dauerte! Zehnmal, zwanzigmal länger als vorgesehen. Und als er endlich oben war, rührte er sich nicht mehr. Es sah aus, als ob er aufgeben wollte.
Wie ein Schattenriss lag er flach auf der Mauerkrone.
War ihm schwindlig? Hatte er Angst, sich zur Straße hinunterzulassen? Hielten ihn Passanten davon ab oder ein Liebespaar, das sich in einen dunklen Winkel schmiegte?
Richter Coméliau knackte vor Ungeduld mit den Fingern. Der Direktor murmelte:
»Jetzt brauchen Sie mich ja vermutlich nicht mehr.«
Endlich wurde das Seil hochgezogen und auf der Straßenseite hinuntergelassen. Der Mann verschwand.
»Wenn ich kein so großes Vertrauen in Sie hätte, Kommissar, hätte ich mich niemals auf so ein Abenteuer eingelassen, das kann ich Ihnen versichern. Und ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich Heurtin nach wie vor für schuldig halte! Angenommen, er entwischt Ihnen …«
»Sehe ich Sie morgen?«, fragte Maigret bloß.
»Ich bin ab zehn Uhr in meinem Büro.«
Schweigend gaben die drei Männer einander die Hand. Der Gefängnisdirektor streckte seine nur widerwillig aus und brummelte im Gehen etwas Unverständliches vor sich hin.
Maigret blieb noch eine Weile stehen und näherte sich erst dem Tor, als er jemanden Hals über Kopf davonlaufen hörte. Er winkte dem Wachtposten zu, warf einen Blick in die menschenleere Straße und bog in die Rue Jean-Dolent ein.
»Ist er weg?«, fragte er eine an die Mauer gepresste Gestalt.
»Ja, Richtung Boulevard Arago. Dufour und Janvier beschatten ihn.«
»Du kannst jetzt schlafen gehen.«
Maigret drückte dem Inspektor zerstreut die Hand und steckte seine Pfeife an, während er sich mit schweren Schritten und gesenktem Kopf entfernte.
Es war vier Uhr früh, als er die Tür seines Büros am Quai des Orfèvres aufstieß. Seufzend zog er seinen Mantel aus, trank ein halbes Glas schales Bier, das noch auf dem Schreibtisch stand, und ließ sich in seinen Sessel fallen.
Vor ihm lag eine dicke gelbe Aktenmappe aus starkem Karton, auf deren Deckel ein Polizeischreiber in säuberlicher Handschrift vermerkt hatte:
Fall Heurtin
Das Warten sollte drei Stunden dauern. Die nackte Glühbirne war in eine Rauchwolke gehüllt, die sich beim leisesten Luftzug ausdehnte. Von Zeit zu Zeit stand Maigret auf, um den Ofen zu schüren, und setzte sich wieder hin, wobei er nach und nach seine Jacke, seinen Hemdkragen und schließlich die Weste ablegte.
Das Telefon war in Reichweite, um sechs Uhr nahm er den Hörer ab, um sich zu vergewissern, dass die Leitung in die Stadt wirklich stand.
Aus dem vollgestopften Ordner waren Berichte, Zeitungsausschnitte, Protokolle und Fotos auf den Schreibtisch gequollen. Maigret betrachtete sie aus der Entfernung, manchmal zog er ein Dokument näher zu sich heran, aber weniger um es zu studieren, als vielmehr um sich zu sammeln.
Beherrscht wurde das Ganze von einem zweispaltigen Text mit der Überschrift:
Joseph Heurtin, der Mörder von Mrs. Henderson und ihrer Haushälterin, heute Morgen zum Tode verurteilt
Maigret rauchte pausenlos und warf hin und wieder sorgenvolle Blicke auf den hartnäckig schweigenden Apparat.
Um zehn nach sechs klingelte es. Falsch verbunden.
Von seinem Sessel aus konnte der Kommissar einzelne Stellen lesen, aber er hatte die Unterlagen ohnehin alle im Kopf.
Joseph Jean-Marie Heurtin, 27, geboren in Melun, Laufbursche bei Monsieur Gérardier, Blumenhändler, Rue de Sèvres.
Ein Foto, das vor einem Jahr in einer Jahrmarktsbude in Neuilly aufgenommen worden war, zeigte einen Riesenkerl mit überlangen Armen, dreieckigem Kopf und fahler Haut, dessen Kleidung nicht allzu viel Geschmack verriet.
Schreckliche Tragödie in Saint-Cloud.
Reiche Amerikanerin und ihre Haushälterin erstochen.
Das war im Juli gewesen.
Maigret schob die grauenhaften Fotos des Erkennungsdienstes von sich weg: zwei Leichen aus jedem Blickwinkel, überall Blut, die Gesichter verzerrt, die Nachthemden verrutscht, besudelt, zerrissen.
Kriminalkommissar Maigret hat das Drama von Saint-Cloud aufgeklärt. Der Mörder sitzt hinter Gittern.
Dann wühlte er den Artikel hervor, der erst vor zehn Tagen erschienen war:
Joseph Heurtin, der Mörder von Mrs. Henderson und ihrer Haushälterin, heute Morgen zum Tode verurteilt.
Im Hof des Polizeipräsidiums entließ ein Gefangenentransporter seine nächtliche, überwiegend weibliche Beute. Auf den Fluren hörte man die ersten Schritte, der Nebel über der Seine lichtete sich.
Das Telefon klingelte.
»Hallo! Dufour?«
»Ja, Chef, ich bin’s …«
»Und?«
»Nichts. Das heißt … Also, wenn Sie wollen, fahre ich auch hin. Aber erst mal reicht Janvier.«
»Wo ist er?«
»Im Citanguette.«
»Citanwas?«
»Ein Gasthof bei Issy-les-Moulineaux … Ich schnappe mir jetzt ein Taxi und bringe Sie auf den neuesten Stand.«
Maigret vertrat sich ein wenig die Beine und ließ sich vom Bürodiener Kaffee und Croissants aus der Brasserie Dauphine bringen.
Er hatte gerade den ersten Bissen im Mund, als Inspektor Dufour, klein und korrekt mit seinem grauen Anzug, einem sehr hohen, sehr steifen Vatermörder und der gewohnt geheimnisvollen Miene eintrat.
»Erst einmal: Was ist das Citanguette?«, brummte der Kommissar. »Setz dich!«
»Eine Flussschifferkneipe am Seineufer zwischen Grenelle und Issy-les-Moulineaux.«
»Ist er direkt dorthin marschiert?«
»Nein, und es ist ein Wunder,