Das Feuer brennt. Frankfurter Allgemeine Archiv
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Wer könnte das nun folgende Drama besser schildern als Willi Holdorf? In seinem 1965 erschienenen Buch „König der Athleten“ lässt er den Leser mit ihm leiden, sich quälen – und kämpfen: „Ich nehme gleich die Spitze, achte auf gleichmäßige, raumgreifende Schritte. Natürlich versuche ich, das Tempo zu drosseln. Ich spüre noch den Stabhochsprung in den Beinen. Doch Aun merkt sofort, was ich versuche, und geht vorbei. Er will ,sein’ Tempo laufen. Ich spüre, wie gegen Ende der ersten Runde meine Kräfte nachlassen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich die restlichen zweieinhalb Runden noch schaffen soll. Hans-Joachim geht vorbei. Damit nimmt er mir den Wind. Bei 800 Meter sehe ich Aun weit vorn. Wenn ich noch gewinnen will, muss ich unbedingt zulegen. Bei jedem Schritt spüre ich die Schwere meines Körpers. Doch ich muss schneller werden – ich muss, muss, muss! Hans-Joachim macht mir Platz. Ich gehe vorbei. Ich höre weder die Rufe der Zuschauer noch die Zeit, die mir mein Trainer zuruft. Ich sehe nur noch Aun. Leicht wie eine Feder läuft er vor mir her. Nein, er fliegt. Es ist wie ein Wunder – die Entfernung bleibt konstant. Das gibt mir Auftrieb. Jetzt wird die letzte Runde eingeläutet. Wir haben etwa 100 Meter Abstand. Ich sehe, wie der Russe schneller wird. Ich versuche, den Abstand zu halten. Meine Beine sind schwer wie Blei. Ich muss mich zu jedem Schritt zwingen.“
In Tokio beendet Holdorf seine Karriere, was er später bereut.
„Plötzlich finde ich mich auf der Zielgeraden wieder. Eben verschwindet Aun im Ziel. Meine letzte Chance. Ich werfe den Kopf zurück und versuche einen Endspurt. Kurz vor dem Ziel verlassen mich die Kräfte. Ich wanke schräg hindurch – sehe die Bahn auf mich zukommen und falle der Länge nach hin. Ich kann es nicht fassen. Das Rennen ist zu Ende. Ich bin erlöst. Ich will liegen, nur liegen und mich ausruhen.“ Der Rückstand: 12 Sekunden, die Gold wert sind.
Zur anschließenden Siegerehrung – barfuß nach Zehnkämpfer-Brauch und ohne Trainingsanzug – springt Holdorf aufs Treppchen, rutscht aus und wäre fast auf Willi Daume gestürzt. Der deutsche Spitzenfunktionär hängt ihm die Goldmedaille um den Hals, dann Rein Aun das silberne und Hans-Joachim Walde das bronzene Schmuckstück. Horst Beyer, der Sechste, schwärmt: „So schön hat Musik noch nie in meinen Ohren geklungen, wie Beethovens Ode an die Freude.“ Die Mannschaft trat 1964 noch gesamtdeutsch auf, mit neutraler Hymne und Fahne (die olympischen Ringe auf Schwarz-Rot-Gold). Auf der anschließenden Pressekonferenz – eine eher interne deutsche Plauderrunde – fragt Holdorf plötzlich: „Wo ist Aun?“ Der Este fühlte sich nicht gefragt und war davongeschlichen.
In Tokio beendete Willi Holdorf mit 24 Jahren seine Karriere, was er vier Jahre später in Mexiko bereute: „Die neue Kunststoffbahn wäre mir entgegengekommen. Ich war ja ein bisschen schwer und habe tiefe Löcher in die Aschenbahn getreten.“ Dennoch gewinnt er 1968 eine Silbermedaille – als Leverkusener Trainer von Claus Schiprowski im Stabhochsprung. Von da an zieht sich die Zwei als rote Zahl durch sein bewegtes Leben: zwei Ehen, zwei Söhne, zwei Diplome (Sport- und Fußball-Lehrer), EM-Zweiter im Zweierbob, zwei Schlaganfälle, zwei Knieoperationen, zwei neue Gelenke. Die außergewöhnliche Eins steht für den Bundesliga-Trainer von Fortuna Köln.
Der Zehnkampf, klagte Holdorf, habe leider an Bedeutung verloren.
Willi Holdorf ist am 17. Februar 2020 80 Jahre alt geworden. „Ich habe achtzig Jahre lang Glück und Spaß gehabt. Da kann es mir jetzt auch mal nicht so gut gehen“, sagte er am Telefon, als wir uns vier Monate später für den 29. Juni um 11 Uhr bei ihm zu Hause in Achterwehr bei Kiel verabredeten. Wir kannten uns näher, seit er von 1965 bis 1967 in dem Taunusort Ober-Erlenbach lebte, als Immobilienmakler den Lebensunterhalt für seine Familie verdiente und für die „SGO“ in der Bezirksliga Rechtsaußen spielte.
Ländliche Idylle umgibt das Dorf vor den Toren Kiels. Die weiße Traumvilla am Ende der abschüssigen Straße überstrahlt die dunkelroten Klinkerhäuser. Danach grünt nur noch weite Natur. Holdorf, als Sportler und Trainer ein Leverkusener, war bekennender Holsteiner. Geboren in Blomesche Wildnis bei Glückstadt an der Elbe, verbrachte er seinen Lebensabend mit seiner zweiten Frau Sabine in der Abgeschiedenheit und Beschaulichkeit von Achterwehr. Er legte zum Gespräch im großräumigen, hellen Wohnzimmer mit Panoramafenster ein Buch auf den Couchtisch, das im Oktober 2014 zum 50. Jahrestag seines historischen Triumphes von Tokio erschien. „Der Titel gefällt mir nicht“, sagte er. „Da steht die Welt still.“ Ein Zitat, das Holdorf im Interview mit dem Autor so dahingesagt hatte.
Das Gesicht war hager und ernst. Kaum ein Lächeln. An den epischen Wettkampf 1964, an jedes Detail, konnte er sich erinnern, „als wäre es gestern gewesen“. Er redete klar, aber ohne Emotion. Mit seiner Frau wollte er zu „Tokyo 2020“ fliegen. Wegen Niklas Kaul, weil er dem Weltmeister zutraute, nach 56 Jahren als dritter Deutscher – nach ihm und Christian Schenk 1988 für die DDR – Olympiasieger zu werden.
Der Zehnkampf habe leider an Bedeutung verloren, klagte Holdorf. Wie wahr: Der zweite Sieg des Amerikaners Ashton Eaton in Rio 2016 ging völlig in der Erwartung des 200-Meter-Finales mit Usain Bolt unter. Doping? „Ich bin froh, dass zu unserer Zeit das kein Thema war.“ Der Amateurstatus war das Problem.
Nach einer knappen Stunde fragte ich nach seiner Gesundheit. Die Antwort war ein Schock. „Nicht so gut. Ich habe ein Karzinom am Übergang der Speiseröhre zum Magen. Ich werde künstlich ernährt. Das kannst du ruhig erwähnen.“ Den Krebs, vor einem Jahr erkannt. Willi Holdorf nahm sein Schicksal sehr gefasst. „Meine Frau macht sich mehr Sorgen als ich. Die meisten schaffen die achtzig nicht. Ich bin der Einzige der ersten sechs von Tokio, der noch lebt. Von dem Amerikaner Herman weiß ich das allerdings nicht.“
Zum Abschied umarmte ich Willi Holdorf auf dem Sofa und flüsterte ihm ins Ohr: „Kämpfe wie vor 56 Jahren!“ Er antwortete ruhig: „Ja. Wenn es geht, will ich nächstes Jahr zu den Olympischen Spielen nach Tokio fliegen.“ Er starb an einem Sonntagabend, nur fünf Tage nach meinem Besuch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.07.2020, Nr. 155, S. 30
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Der schwarze Anti-Rebell
1968 in Mexiko-City, als bei Protesten Menschen starben, als Smith und Carlos die Fäuste erhoben, stolzierte Olympiasieger George Foreman mit Stars and Stripes durch den Ring.
Von Hartmut Scherzer
Die weltweiten Demonstrationen der „68er“ flauten auch vor den Spielen der XIX. Olympiade nicht ab. Die wochenlangen Studentenunruhen in Mexiko-Stadt endeten in einem Blutbad am 2. Oktober 1968, zehn Tage vor der Eröffnung. Wie perfide: Mit einem Massaker sicherte die eigens geschaffene Eliteeinheit „Batallón Olimpico“ den olympischen Frieden. Auf der Plaza de las Tres Culturas im Stadtteil Tlatelolco starben Hunderte Menschen. Eine genaue Zahl der Getöteten existiert bis heute nicht. IOC-Präsident Avery Brundage, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, verließ sich in Zeiten des Aufruhrs auf das Wort der Regierung: „Wir haben die Zusicherung erhalten, dass die Wettbewerbe durch nichts gestört werden.“ Wie die Sicherheit hergestellt wurde, interessierte ihn offensichtlich nicht. Hauptsache: The games can start.
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