Auf dem Schachbrett der Sowjetunion, die DDR. Thilo Koch
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Welche Rolle spielte und spielt die kommunistische Ideologie »auf dem Schachbrett der Sowjetunion«? Ich fragte danach Wolfgang Leonhard, der 1945 mit der sogenannten »Gruppe Ulbricht« aus Moskau nach Ostberlin kam, später in die Bundesrepublik übersiedelte und sich seither immer wieder kritisch mit der hier untersuchten Frage beschäftigte.
»In den kommunistisch regierten Ländern sowjetischen Typs – ich möchte mich ausdrücklich auf diese beschränken und Jugoslawien, aber auch China und Kuba ausnehmen – dient die Ideologie in erster Linie der nachträglichen Rechtfertigung politischer Maßnahmen der Führung. Sie dient der Legitimität der neuen Macht, der neuen herrschenden Schicht. Der Marxismus, entstanden als eine Befreiungslehre der Unterdrückten, ist zu einem Rechtfertigungssystem degradiert worden, und zwar für ein System, das mit den ursprünglichen Vorstellungen von Marx und Engels nur sehr wenig gemein hat. Das gilt sowohl für die Sowjetunion als auch für die DDR.
Was die DDR anbetrifft, so müssen wir wohl zwei Phasen unterscheiden. In der ersten Phase, bis etwa Mitte der fünfziger Jahre, folgte die Ulbricht-Führung blindlings und diszipliniert der Sowjetführung. Walter Ulbricht selbst, den ich schon aus meiner Moskauer Zeit kannte und in den ersten vier Jahren der Entstehung der DDR, hat sich kaum für ideologische oder theoretische Fragen des Marxismus interessiert. Probleme der Macht und der Organisation standen und stehen für ihn im Vordergrund.
Aber Ulbricht hatte einen Instinkt, ein Gespür für die Wandlungen der sowjetischen Linie, und er hatte die Fähigkeit, diese rechtzeitig zu erkennen und sich blitzschnell auf die neuen Linien umzustellen. Seit Mitte der fünfziger Jahre begann die DDR einen gewissen eigenen Spielraum für sich zu gewinnen. Dieser eigene Spielraum führte jedoch nicht, weder in der Politik noch in der Ideologie, zu einer Entstalinisierung oder Liberalisierung oder einer Anknüpfung an Gedanken des humanistischen Marxismus. Im Gegenteil.
Für die Ulbricht-Führung ist ausschließlich entscheidend, welche ideologischen Thesen für die Herrscher des Systems nützlich sind und welche eventuell gefährlich werden könnten. Die ersteren werden unterstützt, die zweiten unterdrückt. Zweifellos gibt es in der DDR nicht wenige Menschen, die im Bereich der marxistischen Theorie etwas zu sagen hätten. Aber sie kommen nicht zu Wort. Zu Wort kommen lediglich die offiziellen SED-Ideologen, die mehr Hofberichterstattern ähneln als marxistischen Theoretikern.
Diese blicken immer noch nach Moskau, und sie wirken in der kommunistischen Weltbewegung wie dogmatische Schulmeister, die allen selbständigen marxistischen Gedankengängen hart und scharf entgegentreten und mit recht primitiven Argumenten. So sind die offiziellen SED-Ideologen heute gleichzeitig die Musterknaben Moskaus und die dogmatischen Schulmeister in der kommunistischen Weltbewegung.«
Der DDR kommt auf dem Schachbrett der sowjetischen Europapolitik eine erhebliche und wachsende Bedeutung zu – auch im Bereich jener sowjetischen »Ideologie«, die zur Magd russischer Machtinteressen degenerierte. Moskau wird infolgedessen alles daransetzen, sich diesen wertvollen Stein nicht vom Brett wegspielen zu lassen.
Von dieser Tatsache geht denn auch die Außenpolitik der Westmächte aus, soweit sie sich mit der »deutschen Frage« beschäftigen muß. Ob amerikanische Präsidenten oder englische Premierminister, ob Staatspräsident de Gaulle – es gibt viele Erklärungen dazu, daß man dem ganzen deutschen Volk das Selbstbestimmungsrecht nicht vorenthalten dürfe, daß die Grenzziehungen einem Friedensvertrag Vorbehalten seien usw.
Aber es gibt keine einzige wirkungsvolle politische Handlung von seiten der USA, Großbritanniens und Frankreichs seit 1945, die der Sowjetunion ihre deutsche Beute ernstlich streitig gemacht hätte. Das Gerede von US-Außenminister John Foster Dulles vom ›Roll back‹ und von der ›Liberation‹ der Satelliten Moskaus hatte nie reale politische Chancen.
Was die europäischen Nachbarn Deutschlands angeht, so haben sie nicht nur nie etwas für die Wiedervereinigung der auseinandergerissenen Teile Deutschlands getan – sie fürchten sogar diese Wiedervereinigung. Nicht nur die osteuropäischen Nachbarn Deutschlands, aber freilich gerade die osteuropäischen, denn sie mußten im Zweiten Weltkrieg am meisten unter Hitlers »Lebensraum«-Ideologie leiden. Mit Furcht oder Eifersucht schrecken alle Nachbarn Deutschlands vor dem Gedanken zurück, sie könnten einmal mit der geballten politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kraft von 80 Millionen Deutschen konfrontiert sein.
Die Ausstrahlung dieser Kraft nach Osteuropa wäre so stark, daß sogar die mächtige Sowjetunion in ihr ein gefährliches Gegengewicht gegen die eigenen Hegemonialansprüche sehen müßte.
Diese Überlegung macht es unwahrscheinlich, daß die Russen jemals die Absicht hatten, ein wiedervereinigtes neutrales Gesamtdeutschland zuzulassen. Auch eine Détente, eine Entspannung größeren Ausmaßes, etwa Fortschritte in den Abrüstungsvereinbarungen zwischen Ost und West, dürften an dieser Grundtatsache nichts ändern.
Es könnten dereinst wieder »kleine Schritte« möglich werden, vielleicht auch kleine Schritte der Deutschen in West und Ost aufeinander zu. Die Grenzen, wie sie der Krieg 1945 und seine Folgen neu in die mitteleuropäische Landkarte eingruben, werden bestehen bleiben. Dahinter steht die Weltmacht Sowjetunion, wer immer in Moskau regieren möge.
Jede realistische politische Analyse wird von der Unabänderlichkeit der Grenzen der DDR für alle absehbare Zeit auszugehen haben. Das ist schon längst keine »Anerkennungsfrage« mehr, es ist bereits ein Stück Geschichte, mit dem wir fast ein Vierteljahrhundert leben.
Diese Einsicht zwingt auch, meine ich, zu einer »Entmythologisierung« der Berlinfrage.
Auf dem Schachbrett der Sowjetunion hat diese Berlinfrage in der Vergangenheit eine wechselhafte Rolle gespielt. Am Anfang standen unklare Vorstellungen und Abmachungen der vier Siegermächte – sie rächen sich bis heute. Stalin sah in Berlin eine Geisel. Sein Würgegriff 1948/49, die Blockade Westberlins, scheiterte. Der russische Diktator erwies sich bei diesem Schachzug als schlechter Spieler.
Berlin wurde zu einem Symbol der westlichen Verteidigungsanstrengungen. Berlin, der Staatsstreich 1948 in Prag und der Koreakrieg verstärkten das entschlossene militärische und wirtschaftliche Engagement der Vereinigten Staaten in aller Welt, vor allem in Westeuropa, und hier an der Spitze in Westdeutschland – und eben in Westberlin.
Stalins Aggressionspolitik bewirkte das Gegenteil von dem, was er erreichen wollte: der Westen einigte sich. Anstatt Berlin preiszugeben und in Südkorea zurückzuweichen, beschlossen Präsident Truman und sein Außenminister Dean Acheson eine Politik des Containment, der Eindämmung des sowjetischen Imperialismus. Eine strategische Einkreisung des Ostblocks von globalen Ausmaßen wurde Zug um Zug verwirklicht.
Dennoch blieb Berlin gefährdet. Auch Stalins Nachfolger bedrohten Westberlin, Chruschtschow 1959 sogar mit einem Ultimatum, von dem er später freilich nichts mehr wissen wollte. Die Mauer 1961 war eine defensive Maßnahme, ein Eingeständnis dafür, daß die mächtige Sowjetunion das kleine, praktisch wehrlose Eiland in der Mitte ihres deutschen Besatzungsgebietes nicht schlucken konnte, ohne den dritten Weltkrieg zu riskieren, und daß zweitens die DDR durch Abwanderung von Millionen ihrer Bürger ausblutete.
Die schrecklichste Kriegsmaschine der ganzen Geschichte, die amerikanische Atomstreitmacht, schützte und schützt den westlichen Vorposten im Herzen der DDR. Auch diese Tatsache ist nicht mehr anerkennungsbedürftig und wird von Moskau anerkannt, realistischer als von Ostberlin.
Freilich werden die Russen immer alles Mögliche versuchen, um das Interesse der Amerikaner an Westeuropa erlahmen zu lassen. Ihr Fernziel bleibt ein gesamteuropäisches »System kollektiver Sicherheit«, in dem sie dominieren