Die Haut am Markt. Will Berthold

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Die Haut am Markt - Will Berthold

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einsperrte, während man sie heute bei den langen Intervallen zwischen den akuten Schüben dem normalen Leben eingliedern kann.«

      Wie recht hat Sybille, überlegte ich, Ärzten auszuweichen, die aus einer Nervenkrise gleich ein Melodrama machen und am liebsten sofort mit Zwangsjacke und Gummizelle vorgingen.

      Ich merkte, daß ich Professor Lex wieder zuhörte; ich spürte nebulos, daß auch ich schon begann, im Konjunktiv zu denken. Dann erfaßte mich der Schock eines Gedankens: Miggi. Nicht Herzinfarkt, dachte ich, Katatonie, vererbt auf Sybille, vermutlich vererbbar an Miggi. Es dauerte lange, bis ich die Frage stellen konnte.

      »Meine Tochter?« unterbrach ich den Arzt mit blecherner Stimme.

      »Da brauchen Sie keine Angst zu haben«, antwortete er. »Die Wahrscheinlichkeit einer Vererbung ist minimal; sie liegt statistisch etwa bei drei Prozent, wenn der andere Elternteil geistig gesund ist.«

      Trost?

      Nein, dachte ich, er nicht. Er ist zu kalt und zu alt, um den Takt aufzubringen, Wärme auch nur zu simulieren. Ich wollte mich gegen ihn sperren und mußte ihn doch fragen. Ich erschrak vor der hohlen Akustik des Raums.

      »Was kann ich für Sybille tun?«

      »Viel und wenig«, versetzte Dr. Lex; er fiel wieder in seine dozierende Manier.

      Ich wußte wenig von Geisteskrankheiten; dabei hätte es bleiben sollen. Begriffe und Schlagworte purzelten durch mein Bewußtsein: paranoid, schizothym, circulär, manisch-depressiv – und dazwischen sah ich, umkreist und gehetzt, Sybille, die ich einmal geliebt hatte, die Mutter Miggis, der ich beistehen wollte, Sybille: nach der Meinung des Professors eine Dissimulantin, eine Gefahr für sich. Eine Gefahr für mich, für ihre ganze Umgebung.

      Ich wollte nichts darüber hören und mußte doch alles wissen. So ging ich die Paradefälle des Professors durch: den berühmten Dirigenten, der vollkommen mit Seiner Krankengeschichte vertraut sei und sich freiwillig in die Klinik begebe, sobald er einen neuerlichen Schub befürchte, der dann nach Wochen oder Monaten entlassen, wieder am Dirigentenpult stehe, im Mittelpunkt begeisterter Ovationen. Professor Lex führte weitere Beispiele von Patienten an, die im Berufsleben zwischen den Anfällen außergewöhnlich tüchtig und doch hoffnungslos schizophren seien.

      Nach seiner Meinung, die er als anfechtbar darstellte, sei es nötig, den Patienten rückhaltlos aufzuklären, an seine Krankheit zu gewöhnen, ihn mit ihr »auszusöhnen« und nach dem Schock Beruhigung in seiner Umwelt zu schaffen.

      »Was übrigens die Behandlung Ihrer Frau betrifft«, sagte er, »so gäbe es zunächst weniger eine medizinische als eine psychologische Frage –« Er lächelte matt, ohne daß sich dabei der scharfe, sezierende Blick seiner Augen milderte. »Jetzt komme ich zu meinem nächsten Patienten. Das sind Sie.«

      Ich wollte aufstehen und gehen, aber ich konnte mich nicht rühren. Ich sollte gleich erfahren, daß dieser seltsame Ordinationsraum bewußt als Treibhaus angelegt war, das die Gedanken und Reaktionen schneller wachsen ließ.

      »Ihre Gefühle für mich treiben gegenwärtig dem Kulminationspunkt zu. Das ist die Basis, auf der wir uns verstehen werden. Unter Männern. Sie haben mich zunächst für einen Säufer, dann für einen Schwätzer, schließlich für einen Unmenschen gehalten; zuletzt wollten Sie direkt von hier weggehen, um einen anderen Psychiater zu konsultieren, der meine Diagnose umwerfen und mich als dummen Rechthaber entlarven sollte. Stimmt’s?«

      Ich schwieg überrascht. Ich spürte, wie sich mein Rücken krümmte und ich mit verzweifelter Ironie darauf wartete, welche Geisteskrankheit diese Kapazität jetzt mir zuweisen würde.

      Professor Lex stand auf, nahm die Brille ab und fuhr sich mit den Fingerspitzen in die Augenwinkel.

      »Keine Angst«, sagte er, »Ihre Reaktionen sind völlig normal. Bevor ich in intime Bereiche vorstoße, muß ich die Erklärung vorausschicken, daß ich es unterließe, wenn ich Ihrem Freund, Doktor Frey, nicht sehr verbunden wäre. Für mich gibt es in Ihrem Fall nur eine Entscheidung.« Er setzte die Brille wieder auf und ging mit seinen abgezirkelten Schritten durch den Raum. »Wollen Sie bei Ihrer Frau bleiben – oder nicht?«

      Ich gab ihm keine Antwort.

      »Es hat keinen Sinn, sich an einer Lösung vorbeizudrücken, nur Um Zeit zu schinden. Ich mische mich in keiner Weise ein, das möchte ich betonen, aber fünfzig Jahre Erfahrung als Psychiater lassen mich sagen, daß ich mich an Ihrer Stelle von meiner Frau trennen würde.«

      Ich war weit weg von Sybille. Der Sinn der Worte ging auch an mir vorbei. Ich war gebannt von der Härte und Kälte, die dieser Mann ausstrahlte.

      »Es wäre das beste für die Patientin – und auch für Sie.«

      »Sie können sich das ersparen. In einer solchen Situation ist es eine Frage des Anstands.«

      »Genau das habe ich erwartet.« Der Ernst nahm seinen Worten den hämischen Beiklang. »Es ist der billigste Ausweg, sich im Glaskasten des Anstands auszustellen, als sein eigenes Denkmal, sich als edlen Mann zu feiern, der selbstlos neben seiner kranken Frau aushält und so nebenbei die schaudernde Bewunderung seiner Umwelt auf sich zieht.«

      »Können wir nicht sachlich bleiben, Herr Professor?« unterbrach ich ihn gereizt.

      »Ich bin sechsundsiebzig«, erwiderte er schroff, »lassen Sie mich daher bitte ausreden. Auf der Rückseite dieses Glashauses steht etwas ganz anderes. Sie sind tüchtig, erfolgreich, viel unterwegs. Sie kommen fast nie nach Hause. Sie sind immer allein. Oder fast immer. Sie sind erst vierzig, und Sie sind – kein Mönch. So haben Sie eine Begleiterin, später eine zweite – und so weiter. Zunächst sind Sie noch sehr vorsichtig, aus Rücksicht auf Ihre kranke Frau. Dann wird die Fürsorge lästig – die man nach Meinung des Facharztes ohnedies einer gelernten Krankenpflegerin überlassen sollte, so man sie sich leisten kann. Soweit ganz schön«, unterbrach sich der Professor, blieb stehen, beugte sich zu mir herab. »Aber was ist daran eigentlich so anständig?«

      »Ich habe das nicht behauptet.«

      »Ich weiß. Wir sprechen rein hypothetisch. Aber eines Tages muß unser Vielbeschäftigter doch wieder nach Hause – und da hängt vielleicht seine Frau, die Patientin, am Fensterkreuz, tot – kapiert?«

      Bevor ich etwas sagen konnte, schnitt er mir den Einwand ab.

      »Ich will gar kein solcher Pessimist sein. Der Selbstmord ist keine Wahrscheinlichkeit, sondern nur eine Möglichkeit. Aber eines Tages wird unser edler Freund müde der ewigen Ausreden. Er gibt auf. Er verläßt die Kranke endgültig.«

      Der Arzt nahm eine Zigarette, er sprach weiter, ohne sie anzuzünden.

      »Oder es kommt die berühmte Frau, der man nur einmal begegnet. Vielleicht hat unser Freund Glück, und es stimmt sogar. Jetzt kommt die große Liebe auf dem Zenit des Lebens, das gereifte Gefühl. Was dann?« fragte er hart. »Spätestens jetzt läßt dieser Mann seine Frau fallen, zertrümmert endlich das Glashaus seines Anstands, wirft die Scherben weg – und jetzt spreche ich als Arzt: dann wäre die Chance, die Patientin soweit wie möglich einem geregelten Alltag einzugliedern, bedeutend kleiner. Jetzt käme zu der Erkrankung eine zusätzliche Enttäuschung.«

      »Das kann sein«, entgegnete ich, »aber wenn es nun nicht so wäre? Wenn unser Mann sich so benähme, wie es sich gehört?«

      »Dann wäre er ein Held oder ein Heiliger«, versetzte Professor Lex. »Er hätte

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