Das einfache Leben. Ernst Wiechert
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Читать онлайн книгу Das einfache Leben - Ernst Wiechert страница 12
»Und … es gibt keine Hilfe?« fragte er.
Der andere schüttelte den Kopf. »Pfarrer und Ärzte«, sagte er, »die arbeiten immer mit den Dingen, die für sie aufgehört haben, wissen Sie. Gott und Pflicht und guter Wille und so weiter.« Er sah sich vorsichtig um. »Ich bin ein einfacher Mensch«, fuhr er leise fort, »aber ich weiß es. Es gibt Mütter und Kinder, bei denen man die Nabelschnur nicht zerschnitten hat, verstehen Sie? Und so war es hier. Sie bleiben immer eins, sie werden nie zwei. Sie hat es auch gewusst, als das dort geschah. Sie kam zu mir auf den Hof, weiß wie eine Tote, und zeigte mit dem Arm in den Wald. ›Jetzt haben sie ihn fortgerissen‹, sagte sie. ›Mein Blut fließt aus.‹ Und so war es auch, dass ihr Blut ausgeflossen ist … Mein lieber Herr, das muss man nun so lassen, und nun ist es so gut, dass Sie hierbleiben und ich manchmal ein bisschen bei Ihnen sitzen darf … wie ist Ihr Name, lieber Herr?«
Sein Gesicht war von innen beglänzt, als er sich vorbeugte und lächelnd in Thomas’ Augen sah.
»Orla«, sagte Thomas. »Thomas Orla … es ist ein märkischer Name. Aber weshalb meinen Sie immer, dass ich hierbleiben werde?«
»Sie sind gesandt, lieber Herr Orla, ja, ich muss es wohl so nennen. Gesandt wie ein Engel des Herrn. Sehen Sie, manchmal in diesen Jahren habe ich gezweifelt, an Gott, ja, das habe ich getan. Aber an den Heiligen nicht. Von Kind auf war ich bei ihnen, das ist in unserem Glauben so, näher bei ihnen mitunter als bei Gott. Er ist so weit, so schrecklich weit. Aber sie sind nahe, an unserer Seite, denn sie haben auch gelitten, ebenso wie wir, mehr noch. Aber Gott leidet nicht, wissen Sie? Nun, und die Heiligen, sie haben Sie gesandt. Sie haben gesehen, dass ich nicht mehr weiter wusste, und da haben sie mir das geschickt, das von Staub und Asche, nicht wahr? Das ist wie ein neues Leben, denn ich glaube es. Und dafür werden Sie hier finden, was Sie suchen. Alles hängt zusammen bei den Menschen, gute Tat und guter Lohn … Der See hier, er ist zu verpachten, oder nicht zu verpachten, sondern der Fischerposten ist zu vergeben, Fischer und Jäger, beides zusammen. Ein ruhiger Posten, auch wenn der General wunderlich ist … alle sind hier wunderlich … man kann leben davon, bequem leben, wenn man einfach ist. Ein kleines Haus auf der Insel, mir gegenüber, einen Büchsenschuss weit, ein Rohrdach, ein großer Herd, ein Netzschuppen. Und ein kleiner Wald, ein schöner Wald, Jungholz mit Fichten und Birken und dazwischen alte Eichen mit trockenen Wipfeln, wo die Reiher abends einfallen. Und ganz allein, verstehen Sie? Ganz allein, nur Wasser und Wald in der ganzen Runde. Man braucht ein Boot, um zu Ihnen zu kommen …«
»Und der General?« fragte Thomas. Seine Pfeife war ausgegangen, und er lauschte wie in einem Märchen. Ein Zauber fiel von dem alten Mann über ihn.
»Ja, ihm gehört das alles, lieber Herr. Das Schloss und das Gut und der See. Ein armer Mann, beide Söhne gefallen, und ich habe sie beide auf den Knien gehalten. Nur eine Enkelin ist bei ihm, und sie ist wie ein Engel in dem dunklen Haus … und Sie werden die Stelle bekommen, ich selbst will es ihm sagen. Der sie jetzt hat, ist ein Bolschewik, verstehen Sie? Einer, der ›Herr‹ genannt werden will, und seine Mutter hat noch Kartoffeln von meinem Feld gestohlen. Und der den General einen ›Blutsäufer‹ nennt, und jedes Kind weiß, dass er nur Rotwein trinkt. Nur dass Kanonen in der Schlosshalle stehen und zwei Diener in Uniform dabei. Einen Putsch will er machen, sagen die Bolschewiken, aber jeder weiß, dass die Kanonen nicht geladen sind.«
»Können wir es sehen?« fragte Thomas und stand auf. »Die Insel, meine ich, und alles … der Mond scheint doch, und vielleicht ist morgen früh alles fort und Sie haben nur geträumt …«
Der alte Mann lächelte. »Auch er war so«, sagte er, »alles gleich und sofort, damit es nicht verschwunden ist am nächsten Tag. Aber nichts verschwindet, lieber Herr. Wenn man alt geworden ist, weiß man, dass nichts verschwindet. Aber wir können gehen … beim Mondlicht wirft es die Netze über Sie, mehr noch als am Tage.«
Die Luft war noch wärmer geworden, und ein paar Regentropfen aus einer verlorenen Wolke fielen schwer in das trockene Laub unter den Eichen. »Geht dort wer?« fragte Thomas leise. Nein, nein, das sei nur der Regen und eben der Zauber. Immer klinge es hier so, als gehe wer durch die Nacht. Aber niemand gehe, ganz still und leer sei der Wald. Außer dass die Toten umgingen aus Land und Meer, aber darüber wisse er nichts.
Der Mond stand noch tief, vor ihnen, und sie sahen nur sein Licht. Der Himmel war sanft beglänzt, wie aus einem fernen Tor, und mitunter blitzte es im Walde auf, ein einzelner Strahl, der durch eine Lücke im Geäst auf feuchte Rinde fiel. Eulen riefen, und vom Wasser schrie ein unbekannter Vogel. Es war, als frage jemand nach dem Wege.
Der Fußpfad senkte sich, und dann war das Wasser zu sehen. Es lag als eine matte Scheibe in einem dunklen, vielfach gesprungenen Rahmen. Es dehnte sich, weit hinaus, und in der Ferne wurde es grauer und matter, bis es mit der Schwärze verfloss. Eine schmale Mondbahn lief bis zu ihren Füßen, und in der Höhe, zwischen dunklen, leise treibenden Wolken, standen die Sterne. Nichts bewegte sich, nicht einmal die Brücke des Mondlichts, und die Schilfhalme standen wie Speere mit glühenden Spitzen am Ufer. Und doch war es wieder, als ginge jemand leise durch den Wald und über das Wasser hin, verstohlen und atemlos, bald zur Rechten und bald zur Linken.
»Dort ist sie«, sagte der Förster leise.
Thomas sah die Insel, einen Büchsenschuss weit. Sie lag in vollkommener Schwärze auf der matten Scheibe, nur um die Wipfellinie war ein fließender, weißer Schein, und die trockenen Äste der Eichen standen wie Gittermasten gegen den Mond. Dunkle, schwere Vögel saßen regungslos in ihrem Netzwerk.
»Hier ist der Kahn«, sagte der Förster.
Aber Thomas wollte nicht fahren. Er wusste, dass es hier war, wo er leben und wahrscheinlich auch sterben würde. Seine Augen sahen es, und mehr noch sagte es sein Herz. Aber er wollte nicht hingehen wie in einem Zauber. Zu viel stand auf dem Spiel. Er war fünfundvierzig Jahre alt und brauchte den Tag, um dies zu sehen. Auch am Morgen würde es noch da sein, und es würde gut sein, wenn es regnete und ein harter Wind ginge, dass alles grau und wirklich aussähe. »Nein, morgen früh«, sagte er.
Sie standen