Das einfache Leben. Ernst Wiechert
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»Und wie arbeiten, Herr Pfarrer? Welche Arbeit? Ich selbst, ich …«
Der Pfarrer hob die Hand. Er stand nun mit dem Rücken gegen das Fenster, als sei er eben aus dem Dunkel der Nacht herausgestiegen, ein Bauer, den seine Felder nicht schlafen lassen. »In dieser Gemeinde«, sagte er, »wohnen Minister und Straßenkehrer. Beide kommen nicht in die Kirche, aber beide arbeiten, und beider Arbeit ist mir gleich wert. Die eine kann ich sehen, wenn ich aus dem Haus trete, die andere kann ich nicht sehen, ich errate sie höchstens oder lese in der Zeitung davon. Ich glaube auch, dass der Straßenkehrer glücklicher ist mit seiner Arbeit als der Minister. Er hat seinen Abschnitt, seinen Besen und seine Karre. Er hat seine Grenzen, über die ihm keiner hereinkommt. Das hat der andere nicht. Und ein Pferdesapfel ist leichter zu beseitigen als Intrigen, oder politische Feindschaft, oder was sie sonst wollen. Aber außerdem kann der Straßenkehrer immer hoffen, einmal Minister zu werden, während jener keinen Stern hat, den er aus dem Himmel herunterholen könnte. Aber das ist alles gleich, ganz gleich. Sie dürfen nicht fragen: ›Welche Arbeit?‹ Sehen Sie meinen Tisch an! Sehen Sie die Briefe! Dutzende, Hunderte von Briefen, mit Blut geschrieben, ja, ich sage es ausdrücklich: ›Mit Blut geschrieben!‹ Wissen Sie nicht, wie Gott uns geschlagen hat? Furchtbar und erbarmungslos geschlagen? Ach …« Er hob die Hände und rang sie über seinem grauen Haar, und für einen Augenblick war sein Gesicht verzweifelter als das des grauen Bildes an der Wand.
Aber dann ließ er die Hände sinken und lächelte wie zur Abbitte. »Es ist nur manchmal«, sagte er, »und geht gleich vorbei … ich sehe Ihnen schon lange zu, fast fünf Jahre, Herr von Orla. In dieser Gemeinde bleibt ja nichts verborgen. Wie Sie mit Ihrem Jungen gehen und wie Sie allein gehen, lange und viel allein. Aber ich war immer getrost, wenn ich an Sie dachte. Er trifft seinen Engel schon, habe ich gedacht. Wer so viel geht, trifft ihn schon einmal. Ich bin nicht zu Ihnen gekommen, das sind so neumodische Dinge. Wenn die Kirchen leer sind, wandern die Pfarrer in die Häuser, um Eintrittskarten zu verschenken. Nein, nein. Die Bauern warten auch, bis man kommt. Aber Sie wollen ja auch nicht das ›Wort Gottes‹, wie es so heißt. Sie wollten nur eine Bestätigung, dass es nicht recht ist mit Ihrem Leben. Und Sie haben gedacht, ein Pfarrer, wenn er um Mitternacht noch auf ist, vielleicht weiß der es …«
»Ich war schon an meinem Hause«, sagte Thomas, »und erst als ich sah, dass die Fenster noch alle hell waren und die Wagen unten hielten, bin ich umgekehrt.«
»Ja, sie leben wie Belsazar und seine Knechte … immer war das so in solchen Zeiten … man soll nicht schelten, man soll nur immer da sein, immer da sein …« Er legte den Kopf an die Lehne seines Stuhles und schloss die Augen. Jede Linie des Gesichtes erstarb in erschreckender Müdigkeit.
Thomas stand leise auf. »Ich danke Ihnen, Herr Pfarrer«, sagte er.
»Danken soll man erst, wenn man beim Morgenlicht nicht bereut, Herr von Orla. Und auch dann ist es meistens überflüssig. Es kommt uns nämlich nicht zu, verstehen Sie? Sehr wenigen kommt es zu, und ich bin nicht einer von den wenigen.«
Er brachte ihn noch ans Gartentor, schloss hinter ihm zu und sah einmal zu den Sternen auf. »Ich war heute bei einem Mörder«, sagte er halb im Fortgehen. »Ja, Sie dürfen nicht erschrecken, das sind so meine Pflichten … Morgen wird er hingerichtet. Ich saß eine Stunde bei ihm und habe gebetet. Allein, denn er wollte nicht beten. Er wollte auch nicht sprechen, kein Wort. Aber ich dachte, vielleicht tut es ihm wohl, dass nun einer da sei außer den furchtbaren Wänden. Aber als ich fortging – der Wärter kam mich holen – und ich noch einmal zurücksah auf seine gekrümmte Gestalt, da richtete er sich auf und sagte: ›Ein Segen, dass es drüben keine Pfarrer geben wird!‹ Ganz freundlich sagte er es … was aber muss ein Stand gesündigt haben, Herr von Orla, dass so etwas gesagt werden kann? Verstehen Sie? Aber es ist nicht der einzige Stand, glauben Sie mir. Keiner von uns weiß, wie er schuldig ist an allem, was geschieht. An allem, hören Sie? Ja, an allem …«
Dann ging er zu den hellen Fenstern zurück, und Thomas sah, wie gebeugt die schweren Schultern waren.
Später müsste Joachim zu ihm, dachte er, langsam die Straße hinuntergehend. Wenn ich einmal arbeite – und es wird sicherlich nicht hier sein –, dann müsste er zu ihm und ab und zu in diesem großen Raum sitzen und ihm zusehen. Wie sein Gesicht lebt unter allen Toten, die um uns sind.
Schwester Beate stand schon in der Wohnungstür, als er die Treppe hinaufkam. »Die gnädige Frau ist krank«, flüsterte sie verstört, »ich weiß nicht, was es ist.«
Er ging noch im Mantel hinein. Mit einem schnellen Blick umfing er den großen Raum, die Tische mit Gläsern und Aschenschalen, die Falten in den Teppichen, die geknüllten Kissen in den Sofas und Sesseln. Der abgestandene Zigarettenrauch machte ihm nach der reinen Nachtluft übel. »Öffnen Sie alle Fenster, Schwester«, sagte er leise. Dann ging er zum Kamin, in dem das Feuer noch brannte.
Seine Frau kauerte in einem der tiefen Stühle. Sie hatte die Füße hochgezogen und den Kopf auf die Lehne zurückgelegt. Ihr Gesicht war weiß und erschöpft, mit kleinen Schweißtropfen auf der gefalteten Stirne. Als er die Hand ausstreckte, um sie auf ihr Haar zu legen, öffnete sie die Augen und lächelte. Ihr Blick war trübe und fast bewusstlos, ihr Lächeln wie das einer entstellten Maske. »Tho … mas«, flüsterte sie mühsam. Sie war betrunken.
Seine Hand hielt in der Bewegung inne, und er starrte regungslos in ihr Gesicht. Er fühlte, wie seine Haut kalt wurde und sein Mund sich in einem bitteren Geschmack zusammenzog. »An allem«, ging es ihm durch den Sinn, »ja, an allem …«
Sie trugen sie ins Schlafzimmer, und Thomas schickte die Schwester nach einem Glase aufgewärmter Milch. Er blieb am Fußende des Bettes stehen, bis sie zurückkam. »Eine leichte Vergiftung«, sagte er. »Nach diesem wird es besser werden, verstehen Sie? Wenn es schlechter wird, rufen Sie mich!« Er sah ihr befehlend in die Augen, bis sie verstanden hatte.
»Ich mache es nun schon allein, Herr Kapitän«, sagte sie.
In seinem Zimmer setzte er sich auf das schmale Ruhesofa und stützte den Kopf in die Hände. Er wusste, dass es ohne Hoffnung war.