Das einfache Leben. Ernst Wiechert
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»Nun, auch das wird ein Ende haben«, sagte er laut. Er sprach nun manchmal mit sich selbst.
Er hatte nicht auf das beleuchtete Schild gesehen und wusste nun nicht, wohin der Zug ihn führte. Er wollte es auch nicht wissen. Er saß in seiner Ecke, sauber und gerade, und ließ wie immer die Blicke von Gesicht zu Gesicht wandern. Manche waren ihm nun längst bekannt: der Mann mit dem Holzbein und den Schnürsenkeln, der nachher an der großen Kirche stand; die Schauspielerin, die zu ihrer Vorstellung fuhr und aus deren erloschenem Gesicht zu lesen war, dass sie an diesem Abend zum hundertsten- oder zweihundertsten Mal dieselbe Rolle spielte; das Fabrikmädchen mit der roten Schleife und die alte Exzellenz, an der alles leise und unaufhörlich zitterte außer dem Monokel, das wie vor einem Totenauge schimmerte.
Die Türen wurden geöffnet und wieder zugeschlagen, wie Fallen, die sich hinter Gefangenen schlossen. Dann heulte der Motor auf, und die unterirdischen Lampen zogen wie ein zerrissenes Band vorüber. Mitunter hob sich der Zug, Schächte und Fenster sprangen aus verwitterten Hauswänden, und der Fetzen einer Lichtreklame schoss wie auf der Flucht die Dächer hinauf. Dann donnerten wieder die Tunnelwände, Kellerluft strömte durch die halb geöffneten Fenster, und weiße Gesichter erschienen an den Scheiben, wie tote Fische hinter Glaswänden, von unsichtbaren Strömungen auf und ab getrieben.
Mitunter sah Thomas eine Matrosenuniform, ins Bürgerliche verwahrlost abgewandelt, und er betrachtete sie aus halbgeschlossenen Augen. Den empörerischen Triumph in dem Gesicht darüber, auf dessen Grunde doch auch nur das Verlassensein hauste, die Sehnsucht, zu vielen solchen Gesichtern zu finden, zu einer schutzgebenden Masse, in der es untertauchen konnte, geborgen in der Namenlosigkeit.
Nun waren sie schon ausgestiegen, zu ihrer Arbeit oder der bloßen Füllung leerer Stunden: der Mann mit dem Holzbein, die Schauspielerin, die Exzellenz. Der Zug brauste dem Norden zu, und andere Gesichter tauchten auf, verhärmte, verdorbene, verwüstete. Es war, als schlinge der Zug die Ernte der letzten Jahre in sich hinein, zu dürren Garben hastig gebunden: Mütter, die vor sich hin wie auf Gräber starrten, auf eingesunkene und verfallene Kreuze; Kinder, die für eine gestohlene Stunde beim Hass oder beim Laster zu Gast gewesen waren; Fremde, die auf schmutzige Blätter unleserliche Zeichen malten; und Krüppel, viele Krüppel, die Blutzeugen der großen Opferung, die stumpf oder voll Hass auf die Gesunden blickten; denen man gesagt hatte, dass sie Helden seien, und die in den Blicken der anderen nun zu lesen glaubten, dass man sie für arme Narren hielt, ein unbequemes Heer, das nun mitzuschleppen war auf dem Wege zu einem neuen Ziel.
Thomas schloss die Augen. Er war gesund, aufrecht, gut gekleidet. Er war wie ein Mann in einem Totensaal, der aufstehen und davongehen konnte, indes die anderen sich hassvoll auf ihrem Lager krümmten und mit halb verwesten Gliedern ihn festzuhalten suchten. Alle hatten zu sterben oder keiner von ihnen. Niemand hatte reich zu sein, und wer gesund war, war ein Räuber.
»Der Herr hat ein Rendezvous?« fragte ein Mann, der ihm gegenübersaß. Die Haut über seinem verzehrten Gesicht war so dünn gespannt wie über einem Drahtgestell, und Thomas dachte, dass es einen hellen Ton geben müsste, wenn der Finger des Todes anpochte bei ihm. Aber der Klang der Frage war böse, hohnvoll und von dem Hass des Geschlagenen erfüllt.
»Ja, mit dem Engel«, sagte Thomas schnell.
Der Blick des anderen verwirrte sich und lief die Fensterreihe entlang, über der in läppischen Versen die Unfallwarnungen standen. Dann kehrte er langsam zurück. »Es gibt keine Engel mehr«, sagte er, und seine Stimme war nun müde und hoffnungslos.
Die Bremsen setzten ein, und Thomas stand auf. »Doch«, sagte er im Vorbeigehen, »es gibt noch Engel … nur haben sie eine Rüstung an …«
»Verschüttet gewesen«, murmelt eine Stimme, als Thomas ausstieg.
Er bog in eine der Nebenstraßen ein, die wie ein unendlicher Schacht in eine ferne Wüste zu laufen schien. Ein grünlicher Mond hing über den Dächern, fragwürdig wie alles Licht in dieser Stadt. Die Tritte der Menschen hallten an den Wänden empor, und man hörte diejenigen heraus, die noch auf Holzsohlen gingen. Das Licht hinter den Fenstern war trübe, und wenn ein Torweg sich auf die Hinterhöfe öffnete, wehte es dumpf heraus wie von einem Friedhof, auf dem die Kränze welkten. Grammophone kreischten aus der Ferne, erstickt wie unter nassen Tüchern, und ganz weit vor ihm, hoch über unsichtbaren Dächern, raste ein zerrissener Kreis, bald grün, bald rot erstrahlend, um seine Achse. Er sah aus wie ein verstümmeltes Signal aus der Unendlichkeit.
Die Hände in den Taschen, den Hut zurückgeschoben, ging Thomas die Straße hinunter. Diese und die nächste und wieder die nächste. Plätze leuchteten auf und blieben zurück, Gärten hinter bröckelnden Mauern, ein Schienenstrang, ein Autobus, der wie ein feuriger Drache in einer Höhle verschwand. Er liebte es, so zu gehen. Er hatte nicht Freude daran. Er war nur wie ein Schiff vor dem Winde. Fünf Jahre waren vertan. Der Krieg war die Probe gewesen, und er hatte nicht bestanden. Viele hatten nicht bestanden, aber das tröstete ihn nicht. Nur, er wollte von Neuem anfangen, und das unterschied ihn von vielen. Er wusste noch nicht, wo es beginnen würde, aber er hoffte, ihm zu begegnen. Hier vielleicht, und wenn nicht hier, dann an einer anderen Stelle. Er wusste, dass andere studierten oder in einer Bank arbeiteten oder in einer Fabrik. Aber das wollte er nicht, weil es kein neuer Anfang war. Sie hatten ihn über Bord geworfen, als er nach der Flagge gefasst hatte. Das Meer war über ihm zusammengeschlagen, und er war nur durch ein Wunder gerettet worden. Der Engel hatte ihn angeblickt und war weitergegangen, aber er würde ihm wieder begegnen. Vielleicht an der nächsten Straßenecke, wo das weiße Schild über dem Bürgersteig leuchtete. Vielleicht vor der Erdkugel, die vor seinen Büchern stand, vielleicht erst im Angesicht des Todes. Aber er würde ihm begegnen.
Er sah an den matten Sternen, dass er nach Osten ging, und er merkte es an dem Gesicht der Stadt. Härter als in den anderen Vierteln hatte der Krieg hier regiert. Die Häuser waren wie vom Aussatz zerfressen, die Fenster erblindet, die Gesichter verwüstet, und was aus den Torwegen sich auf die Straße schlich, hatte fahle Stirnen und einen leisen Schritt, wie über verlassenen Schlachtfeldern. Mädchen sprachen ihn an und folgten ihm eine Weile, und es war ihm,