Die bekanntesten Werke von Robert Louis Stevenson. Robert Louis Stevenson
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Mrs. Weirs Lebensphilosophie ließ sich in ein Wort zusammenfassen: Empfindsamkeit! So wie sich ihr das ganz von der Glut der Höllentore erleuchtete Weltall malte, waren gute Menschen verpflichtet, in einer Art Ekstase der Empfindsamkeit durchs Leben zu gehen. Die Tiere und Pflanzen besaßen zwar keine Seelen, aber sie waren ja nur auf einen Tag geschaffen; mochte dieser Tag ihnen sanft verrinnen! Und was die unsterblichen Menschen betraf – wie abschüssig war der Pfad, den viele von ihnen gingen – wie grausam die Ewigkeit, in die er mündete! »Kauft man nicht zwei Sperlinge –« »So dir jemand einen Streich gibt –« »und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte« »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet« – diese Texte bedeuteten für sie das A und O des Gottesworts. Sie zog sie morgens mit ihren Kleidern an und legte sich des Nachts mit ihnen schlafen; sie gingen ihr unablässig im Kopfe herum wie eine geliebte Melodie und umschwebten sie gleich einem Lieblingsparfüm. Der Familiengeistliche war ein kerniger Ausleger der Schrift, dem Mylord mit Behagen lauschte; allein Mrs. Weir verehrte ihn nur von ferne, hörte sein nützliches Dröhnen jenseits der Rampen des Dogmas (gleich den Kanonen einer belagerten Stadt) und weilte inzwischen innerhalb wie außerhalb der Schußweite in ihrem privaten Garten, den sie mit dankbaren Tränen wässerte. Seltsam zu sagen, war diese farblose und rückgratlose Frau wahrhaft fromm; sie hätte der Sonnenschein und der Ruhm eines Klosters werden können. Vielleicht kannte niemand außer Archie ihre Beredsamkeit; er allein hatte seine Mutter mit geröteten Wangen und verschlungenen oder bebenden Händen gesehen, ganz sanfte Glut. In dem Parke von Hermiston gibt es einen Winkel, von wo aus man einen unerwarteten Blick auf den Gipfel des Schwarzen Berges hat, der mitunter nichts weiter ist als die grasige Kuppe einer Anhöhe, mitunter aber auch (um Mrs. Weirs eigenen Ausdruck zu gebrauchen) einem kostbaren Juwel in einer Wolkenfassung gleicht. Wenn der Berg an solchen Tagen plötzlich vor ihr auftauchte, preßten ihre Finger sich um die des Kindes, und ihre Stimme schwang sich zu einem Liede auf. »Auf die Berge möcht’ ich steigen!« sang sie und fügte hinzu: »Ach, Archie, sind sie nicht wie die Hügel Naphtalis?«, und ihre Tränen strömten.
Auf ein eindrucksfähiges Kind mußte diese ständige, sanfte Begleitmusik des Lebens eine tiefe Wirkung ausüben. Der Frau Quietismus und Frömmigkeit gingen ungeschmälert auf seine völlig verschiedene Natur über; aber während sie dort dem eingeborenen Gefühl entsprangen, waren sie hier nur ein eingepflanztes Dogma. Natur und des Kindes Kampflust lehnten sich manchmal dagegen auf. Ein Proletarierjunge aus der Potterrow schlug ihn eines Tages auf den Mund; er schlug zurück, die beiden trugen die Sache in einer Gasse hinter den Ställen bei den Meadows aus, und Archie kehrte mit einer beträchtlich verminderten Anzahl Vorderzähne nach Hause zurück, wo er in wenig erbaulicher Weise mit den Verlusten seines Feindes prahlte. Das war ein schlimmer Tag für Mrs. Weir; sie betete und weinte über dem jugendlichen Sünder, bis die Zeit von Mylords Heimkehr vom Gericht herannahte und sie die Miene zittriger Ruhe aufsetzen mußte, mit der sie ihn zu begrüßen pflegte. Der Richter war an jenem Tage in beobachtender Laune und bemerkte sehr bald die fehlenden Zähne. »Ich fürchte, Archie hat mit einem der Burschen aus dem Hinterhause gerauft«, sagte Mrs. Weir.
Mylords Stimme dröhnte, wie sie das in der Zurückgezogenheit seiner Häuslichkeit selten tat. »Dergleichen Dinge verbitte ich mir, Junge! Hast du mich verstanden? – Alle dergleichen Dinge! Ich dulde nicht, daß sich ein Sohn von mir mit irgendwelchem schmutzigen Pöbel in der Gosse wälzt!«
Die besorgte Mutter war dankbar für eine so kräftige Unterstützung; sie hatte eher das Gegenteil befürchtet. Und als sie an jenem Abend das Kind zu Bett brachte, sagte sie: »Jetzt siehst du’s, mein Herz. Ich hab’ dir ja vorausgesagt, was dein Vater davon denken würde, wenn er erführe, daß du dich zu dieser schrecklichen Sünde hast verleiten lassen; und jetzt wollen du und ich zu Gott beten, daß er dich vor einer ähnlichen Versuchung bewahren oder dir Kraft verleihen möge, ihr zu widerstehen!«
Die weibliche Lüge war in diesem Falle umsonst. Eis und Eisen lassen sich nicht zusammenschweißen, und die Standpunkte des Lord Oberrichters und Mrs. Weirs waren nicht weniger antagonistisch. Charakter und Stellung seines Vaters waren Archie schon längst ein Stein des Anstoßes, und die Schwierigkeit wuchs mit jedem Jahre, das er älter wurde. Der Mann verhielt sich meistens schweigsam; wenn er aber überhaupt redete, geschah es, um weltliche Dinge in durchaus weltlichem Geiste vorzutragen, teils in einer Sprache, die man den Jungen gelehrt hatte als roh zu betrachten, teils sogar mit Worten, die er als direkt sündhaft erkannte. Zärtliche Sanftmut war die vornehmste Pflicht, und Mylord war unfehlbar hart. Gott war die Liebe; der Name Mylords lautete (für alle, die ihn kannten) Furcht. In dem Weltschema, das die Mutter Archie aufgebaut hatte, war eines derartigen Geschöpfes Platz gezeichnet. Dort gab es Menschen, die man bemitleiden mußte und für die zu beten gut, wenn auch wahrscheinlich vergeblich war. Diese wurden Verworfene, Böcke, Feinde Gottes genannt, Fackeln, die sich selbst verzehrten; Archie fand ein jedes Merkmal hier vertreten und zog den unvermeidlichen Schluß, daß der Lord Oberrichter der größte aller Sünder sei.
Der Mutter Aufrichtigkeit war kaum vollkommen. Einen einzigen Einfluß gab es, den sie für ihr Kind fürchtete und im geheimen bekämpfte: den Mylords; und halb unbewußt, halb in willkürlicher Blindheit fuhr sie fort, ihres Gatten Stellung bei ihrem Sohne zu unterminieren. Solange Archie schwieg, tat sie dies erbarmungslos, den Blick einzig auf des Kindes Seelenheil gerichtet; aber es kam der Tag, da Archie redete. Es war im Jahre 1801, als er das siebente Jahr vollendet hatte und für sein Alter bereits eine ungewöhnliche Wißbegier und Logik zeigte. War es Sünde und verboten, andere zu richten, weshalb war Papa dann ein Richter? Und machte aus der Sünde einen Beruf? Und trug ihren Namen als eine Auszeichnung?
»Ich verstehe es nicht«, sagte der kleine Rabbi und schüttelte altklug den Kopf.
Mrs. Weir floß über von Gemeinplätzen.
»Nein, ich kann es trotzdem nicht verstehen«, wiederholte Archie. »Und ich will dir was sagen, Mama, ich glaube nicht, daß du und ich berechtigt sind, bei ihm zu bleiben.«
Das rüttelte die Frau auf; sie sah sich abtrünnig von ihrem Mann, ihrem Gebieter und Ernährer, von ihm, für den sie (soweit Weltlichkeit überhaupt in ihrer Natur lag) einen gewissen unterdrückten Stolz empfand. Sie tat sofort Buße in Form eines Vortrages über Mylords Ruhm und Größe, seine verdienstvollen Leistungen in dieser Welt des Leides und des Unrechts und über den Platz, den er einnähme, hoch erhaben über Kinder und Unmündige, die ihn niemals zu erkennen oder zu kritisieren hoffen dürften. Aber Archie hatte seine Antwort parat: Waren nicht Kinder und Unmündige Typen des Gottesreichs? Waren Ruhm und Größe etwa nicht der Welt Abzeichen? Und überhaupt, wie war das mit dem Mob gewesen, der Mylords Wagen umbrandet hatte?
»Das ist alles schön und gut«, schloß er, »aber meine Meinung ist, Papa hat kein Recht, Richter zu sein. Und das ist anscheinend noch nicht mal das Schlimmste. Es scheint, sie nennen ihn den ›Henker-Richter‹ – es scheint, daß er grausam ist. Ich will dir was sagen, Mama, ich muß immer an den Text denken: ›Besser wäre es für jenen Menschen, man hinge ihm einen Mühlstein um den Hals und würfe ihn in die tiefste See.‹«
»Ach, mein Lamm, nie wieder darfst du so etwas sagen!« jammerte sie. »Du sollst Vater und Mutter ehren, mein Herz, auf daß du lange lebest auf Erden. Das sind nur Atheisten, die sich gegen ihn auflehnen – französische Atheisten, Archie. Du willst dich doch nicht mit französischen Atheisten auf ein und dieselbe Stufe stellen? Es würde mir das Herz brechen,