Ewige Stille. Astrid Keim

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Ewige Stille - Astrid Keim

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Auf die Kantine, deren Auswahl ihm ohnehin nicht so richtig zusagt, hat er heute im Hinblick auf das Abendessen verzichtet. Auch wenn sich die Küche um Abwechslung bemüht, so sind doch durch das beschränkte Budget enge Grenzen gesetzt. Lieber mittags lediglich ein belegtes Brot und etwas Obst am ­Nachmittag, um dann abends mit Laura etwas zu kochen oder essen zu gehen. Auch heute ist ein Restaurant­besuch geplant.

      Diese Nähe erscheint ihm immer noch wie ein Wunder, auf das er nicht mehr zu hoffen wagte. Über zwanzig Jahre sind vergangen, seit sie sich bei der Arbeit kennen­gelernt haben, er als junger ­Kriminalkommissar, sie als mitten im Leben stehende, verheiratete Rechtsanwältin. Über gelegentliche Zusammenarbeit war eine Freundschaft entstanden, die schließlich auch ihren Mann miteinbezog. Leider nur Freundschaft, damit musste er sich abfinden, denn von seiner Seite aus war es Liebe auf den ersten Blick. Erst mit Christophs plötzlichem Tod bot sich ihm die Chance, mit der er nicht mehr gerechnet hatte.

      Es war kein einfaches Unterfangen gewesen, Laura zu gewinnen. Für sie stellte der Altersunterschied von zehn Jahren zunächst ein unüberwindliches Hindernis dar. Es erforderte eine Menge Zeit und Überzeugungskraft, ihre Bedenken zu zerstreuen und den Versuch einer Beziehung zu wagen. Jetzt sind sie schon über ein Jahr zusammen, haben Gemeinsamkeiten und Differenzen entdeckt, sich gestritten und versöhnt, eine Basis des Zusammenseins gefunden. Nicht des Zusammen­lebens, denn Laura besteht darauf, in ihrer Wohnung zu bleiben, obwohl Thomas’ Haus in Eschersheim reichlich Platz böte, kaufte er es doch einst in Erwartung einer Familie. Bald schon hatte er den Vorschlag eines Umzugs gemacht und die Ablehnung zunächst als Ablehnung von Intimität und Miteinander verstanden. Es dauerte eine Weile, bis er Lauras Argumenten folgen konnte, dass beides nicht von einem Ort ­abhängig sei, sondern im Vertrauen gründet, das man sich entgegenbringt. Jetzt ist er mit diesem Arrangement durchaus einverstanden.

      Das Läuten des Telefons reißt ihn aus seinen Gedanken. Schon beim ersten Ton aus dem Mund von Iris, seit zwei Jahren seine engste Mitarbeiterin, weiß er, dass die Hoffnung auf einen baldigen Feierabend beendet ist. Der Klang ihrer Stimme ist genauso alarmierend wie ihre Worte.

      »Männliche Leiche in einem Altpapiercontainer im Bahnhofsviertel. Vermutlich Mord, schwere Kopfverletzung. Keine Papiere, kein Handy, nordeuropäischer Typus. Ich bin schon dort, war in der Gegend wegen der anderen Sache, als der Funkspruch kam, einem Anruf nachzugehen. Du wirst es kaum glauben, es ist die gleiche Straße, nur zwei Häuser weiter.«

      »Die gleiche Straße?« Er ist sofort im Bild. Das ist ja ein merkwürdiges Zusammentreffen. Vor drei Wochen hat man dort schon einmal eine Leiche gefunden und noch immer gibt es keine heiße Spur. Weder Name noch Nationalität des getöteten Mannes sind bekannt, obwohl ein Foto veröffentlicht wurde. Möglicherweise Osteuropäer. Möglicherweise. Das ist als Anhaltspunkt zu wenig. Als wäre er vom Himmel direkt in den Keller gefallen, wo man ihn mit eingeschlagenem Schädel gefunden hatte. Der Gerichtsmediziner gab ihm auf Grund seines Aussehens und körperlichen Zustandes den Namen ›der Asket‹ und unter diesem wurde auch die Akte angelegt. Die Untersuchung läuft noch immer auf Hochtouren, vor allem Iris hat sich in diesen Fall verbissen. Und jetzt so etwas. Das kann doch eigentlich kein Zufall sein. Vielleicht gibt es eine Verbindung. Thomas lässt sich die genaue Adresse durchgeben und hastet mit dem Mantel über dem Arm zum Aufzug.

      Das war’s wohl mit dem gemeinsamen Essen, stellt er mit Bedauern fest, es wäre ein Wunder, wenn ich rechtzeitig fertig würde. Er zieht das Handy aus der Jackentasche und wählt Lauras Nummer. Da sie nicht abnimmt, bittet er dringend um Rückruf.

      Als er ankommt, ist die relativ enge Einfahrt zum Hinterhof schon abgesperrt, sodass keine weiteren Zuschauer mehr nachdrängeln können. Die Ansammlung ist ohnehin schon groß genug. Vor wenigen Minuten traf die Spurensicherung ein, nun packt sie ihre Utensilien aus. Widerwillig lassen die Schaulustigen ihn passieren, als er seinen Ausweis zückt. Hälse werden gereckt, um nichts zu verpassen und Handys in der Hoffnung auf einen sensationellen Schnappschuss gezückt, obwohl im Moment überhaupt nichts zu sehen ist. Aber Ausharren wird sich lohnen, man weiß nämlich Bescheid. Eine stark übergewichtige Dame im besten Alter mit ebenholzschwarzer Haut und einer Unmenge eng geflochtener, goldfarbener Zöpfe hat geplaudert. Grade wendet sie sich mit kokettem Lächeln einem Riesen mit Bulldoggengesicht und Presseanhänger zu, dem es trotz heftiger Proteste mühelos gelungen ist, sich mit seiner Kamera durch die Menge zu quetschen. »Fotografiern se misch ruhisch, isch habben gefunne«, informiert sie ihn in bestem Frankfurterisch. »Un Sie, junger Mann mache e bissje Platz, dass des Bild aach was werd.«

      Thomas, der mit erhobener Marke hinzugetreten ist, hält verblüfft inne und dreht sich um. »Ja Sie, isch mein Sie«, wird er barsch zurechtgewiesen. »Aus Glas sin auch die B … isch mein die Boliziste net.«

      Thomas fehlen für einen Moment die Worte, als ihm bewusst wird, dass es um ihn geht und seine Dienstmarke nicht den geringsten Eindruck macht. Er fängt einen amüsierten Blick von Iris auf, die mit Mühe ein Grinsen unterdrückt. Jetzt heißt es Gesicht wahren, Autorität fordern, beweisen, dass man sich nicht abkanzeln lässt und zwar subito.

      Er fixiert den Reporter mit gerunzelter Stirn und nimmt dann die Frau ins Visier. Eine scharfe Antwort liegt ihm auf der Zunge, aber im letzten Moment überlegt er es sich anders: »Kein Problem, es wäre doch schade, die Öffentlichkeit um den Genuss Ihres reizenden Lächelns zu bringen. Ich würde mich jedoch glücklich schätzen, wenn Sie mir danach ein paar Minuten Ihrer kostbaren Zeit für eine Aussage opfern könnten.«

      Die Lacher sind auf seiner Seite. Ihr Gesicht verrät eine kleine Verunsicherung, aber als Thomas aufmunternd nickt, nimmt sie eine neue Pose ein, wirft die Haarmähne zurück und lässt sie durch die Finger gleiten. Der Pressemann allerdings hat verstanden. Er wird den Teufel tun, sich mit der Polizei anzulegen und erklärt die Fotosession für beendet.

      Mit offensichtlichem Bedauern folgt die Zeugin Thomas zu einem Einsatzwagen. Ihr Name sei Rabea Müller-Schmitt. Geborene Müller.

      Thomas hebt die Augenbrauen.

      »Gell, des hädde se net gedacht«, kontert sie schnippisch, »aber isch komm ganz nach meine Mudder.« Der Ausweis sei aber zu Hause, wer hätte denn schließlich mit so was rechnen können?

      Ist das ernst gemeint? Thomas ist im Zweifel, wird aber eines Besseren belehrt, als er die Daten im Computer überprüft. Die Angaben stimmen. 52 Jahre, Witwe, keine Kinder. Wohnhaft in der Weserstraße, gleich um die Ecke ihres Arbeitsplatzes, eines Bordells der gehobenen Kategorie. »Isch kümmer misch um die ­Mädscher, bin dene ihrn Kummerkaste, mach Besorgunge, butz die Zimmer, kehr de Hof. Guck aach immer, des genuch Gummis und Kleenex da sin. Seid üwer zehn Jahrn«, fügt sie hinzu, »seid mein Werner geschtorbe is. Wa noch ka fuffzisch, Hetzinfakt. Wa Klempner un Inschtalladör. Hat aach da, wo isch jetz bin, Aufträsch gehabt. Heizung, Wasser, Scheiße«, sie lacht. »Hat gud verdient, abber hat sich ze frieh fotgemacht. War schad, aach wesche der Rent, abber ich will net glaache, hab mei Auskomme, un isch mach die Abeit gern.«

      Das war knapp, klar und präzise. Thomas ist über die Lebensumstände im Bilde und auch darüber, dass Frau Müller-Schmitt den ersten Vermutungen zum Trotz über ein intaktes Realitätsbewusstsein verfügt und mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen steht.

      Der Container sei bis obenhin voll gewesen, erfährt er. Jedes Mal dasselbe. Ganze Kartons würden unzerkleinert hineingeworfen und dann wäre im Nu alles dicht. Deshalb sei dort eine alte Weinkiste deponiert, auf die sie steigen könne, um Platz zu schaffen. »Un dann«, sie wirft mit dramatischem Gesichtsausdruck die Hände in die Höhe, »hab isch ihn gesehe. Will maane, erst ma nur sei Hand. Aber isch hab gleisch gewusst: des isn Dote.«

      »Wieso?«, unterbricht Thomas, »es hätte doch auch jemand sein können, der seinen Rausch dort ausschläft.«

      »Des maane Se doch net im Enst!« Ein verächtlicher Blick streift ihren Gegenüber.

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