Ewige Stille. Astrid Keim
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»Nein, es macht mir wirklich nichts aus«, wendet sie sich an Thomas, »du hast doch auch schon Arbeiten für mich übernommen, wenn ich in Terminschwierigkeiten war.« Sie stößt ihn leicht in die Rippen. »Los Kumpel, verschwinde. Ich halte hier die Stellung und fange schon mal mit den Befragungen an.« Mit einer Handbewegung scheucht sie Thomas fort, der zunächst noch zögert, dann das Angebot dankend annimmt.
Prüfend gleiten ihre Blicke über die Hausfassade des Hinterhofs. Alle Fenster sind mittlerweile wieder geschlossen, die Sensation ist vorbei. Aus dem Augenwinkel kommt es ihr so vor, als bewege sich die Gardine am Fenster einer der Erdgeschoss-wohnungen. Sie tritt näher und bemerkt eine schmale Gestalt hinter dem Vorhang, die offenbar ihren Beobachtungsposten noch nicht aufgegeben hat. Sie überlegt kurz und pocht dann gegen die Scheibe. Irgendwo müssen die Befragungen ja ihren Anfang nehmen, vielleicht gibt es hier schon Antworten.
Mit einem kleinen Zögern öffnet sich ein Flügel. Neun Jahre, höchstens zehn, überschlägt Iris, älter dürfte sie nicht sein. Das Gesicht ist noch ganz kindlich, aber die großen dunklen Augen blicken ernst und wissend. Neben ihr auf der Fensterbank sitzt eine schwarze Katze mit ebenso ernsthaftem, ungerührtem Gesichtsausdruck, bewegungslos wie eine Statue. »Die ist aber mal schön.« Iris deutet auf das Tier. »Wie heißt sie denn?«
»Das ist keine Sie, er heißt Sam, eigentlich Samuel, aber ich nenne ihn Sam, weil das kürzer ist«, folgt die Belehrung auf dem Fuß, »und er ist der schönste Kater der Welt.«
Iris nickt. »Das glaube ich auch. Darf ich ihn streicheln?«
»Versuchen Sie’s.«
Das klingt nicht gerade ermutigend, aber wenigstens nicht ablehnend. Vorsichtig nähert sie ihre Hand dem Kopf des Katers und krault sanft das Fell hinter den Ohren. Einen Moment lang trifft sie ein grün-goldener Blick, dann schließen sich die Augen. Sam neigt den Kopf zur Seite und fängt an zu schnurren.
»Das macht er nicht bei jedem.« Anerkennung schwingt in der Stimme des Mädchens mit. »Sie kennen sich mit Katzen aus.« Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Stimmt. Ich hatte mal zwei, die uralt geworden sind. Sie bekamen alle Krankheiten, die bei alten Menschen auch vorkommen, und kosteten ein Vermögen an Tierarztkosten, aber ich habe sie heiß und innig geliebt.«
»Sam ist noch jung, noch nicht mal ein Jahr alt. Im April saß er plötzlich auf unserer Fensterbank und miaute, da war er noch ganz klein. Mami sagte, ich soll ihn nicht reinlassen, er würde bestimmt nach einem Zuhause suchen, aber er blieb einfach sitzen und miaute und miaute. Die ganze Nacht hörten wir ihn und am Morgen ließ Mami ihn rein und gab ihm was zu essen. Jetzt gehört er zu uns. Da«, sie deutet auf ein fragiles Holzgebilde, »wir haben eine Leiter gebaut, damit er nicht so hoch springen muss und sich vielleicht wehtut. Wenn er raus will, springt er innen auf die Fensterbank, wenn er rein will außen und kratzt am Glas.«
»Ein schlaues Tier.« Der Kater hat mittlerweile den Kopf gehoben und lässt sich das Kinn kraulen. »Bist du oft mit ihm am Fenster?«
»Wollen Sie wissen, ob ich im Hof was gesehen habe?«
Erstaunt blickt Iris die Kleine an und fühlt sich durchschaut. Da wollte sie sich ganz behutsam dem springenden Punkt nähern und nun das. Ein kluges Kind. Nicht schlecht, da kann man sich Umwege sparen.
Sie neigt zustimmend den Kopf. »Hast du?«
Ein bedauerndes Achselzucken. »Nein, heute nicht.«
»Was heißt heute?«, hakt Iris nach.
»Na ja, manchmal sind Leute hier, auch nachts.«
»Die was machen?«
»Ach, das ist ganz unterschiedlich. Ein paar kommen zum Kiffen her, manche spritzen sich was, manche knutschen … oder so.«
Nicht nur ein schlaues, sondern auch ein aufgeklärtes Kind, das schon einiges mitbekommen hat, von dem die meisten Altersgenossen noch nichts ahnen, denkt Iris. Wie lange mag sie schon in dieser Umgebung wohnen?
»Schon lange«, beantwortet die Kleine ihre Frage. »Bestimmt zwei Jahre. Nachdem der Papa nicht mehr da war, sind wir hierher gezogen. Meine Tante wohnt auch hier im Haus, mit Samira und Yasmin. Das ist gut, ich kann sie besuchen, wenn Mami arbeitet. Früher war sie immer zu Hause, aber jetzt ist sie Tänzerin. Ganz in der Nähe. Sie ist wunderschön und hat wunderschöne Kostüme.«
Wunderschöne Kostüme? Merkwürdig. Hier im Bahnhofsviertel sind Kostüme doch eher überflüssig. Um was für eine Art von Tanz mag es sich wohl handeln? Vielleicht bekommt sie es ja heraus, ohne direkt nachzufragen.
»Wie dumm von mir, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich arbeite …«
»Bei der Polizei, ich weiß. Können Sie mir mal Ihren Ausweis zeigen, ich habe so was noch nie gesehen.«
Mit großem Ernst studiert sie das Dokument von beiden Seiten. »Iris Kirchner, ein schöner Name. Passt gut zu Ihnen.«
»Du kannst mich Iris nennen, wenn du möchtest. Sagst du mir auch deinen Namen?«
»Aisha«, kommt die bereitwillige Antwort, »Aisha Gülen, aber ich bin in Frankfurt geboren.«
»Warum aber? Ganz viele Menschen, deren Eltern von weit her zugereist sind, sind hier geboren.«
»Weil der Name nicht hierher passt. Ich mag ihn auch nicht besonders. Ich würde lieber Marie oder Sofia oder Emma heißen wie die Mädchen in meiner Klasse, aber Mami sagt, er sei was ganz Besonderes und ich soll stolz auf ihn sein.«
»Da hat deine Mami aber ganz recht. Er ist wirklich etwas Besonderes. Auf welche Schule gehst du denn?«
»Auf die Kant-Schule.«
»Aber das ist doch die Privatschule am Holzhausenpark. Ganz schön weit weg.«
»Ja.« Aisha nickt. »Jetzt schon, aber früher haben wir in der Nähe gewohnt. Mami wollte, dass ich dort bleibe.«
»Und du?«
»Ich auch. Meine ganzen Freundinnen gehen da hin, obwohl sie nicht mehr zu mir kommen können. Mami will das nicht, aber ich darf sie besuchen und zu meinem Geburtstag irgendwohin einladen.«
Iris überlegt. Ein sozialer Abstieg also, der kaschiert werden soll, damit dem Kind keine Nachteile entstehen. »Und was sagt dein Papa dazu?«
Aishas Gesicht verdüstert sich. »Er ist im Paradies. Ich soll deswegen nicht traurig sein, sagt Mami immer, es wäre sehr schön da und er würde auf uns aufpassen, aber ich hätte ihn lieber bei uns.«
»Ja, das verstehe ich. Mir ging es genauso, als mein Vater starb, obwohl ich schon viel älter war als du. Und deine Mami muss nun allein für euch beide sorgen?«
Aisha nickt. »Sie tanzt. Und viele Frauen tanzen mit ihr.