Michael Endes Philosophie. Alexander Oberleitner
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Eine Analyse der bis heute äußerst kontroversiell diskutierten Lehren Steiners39 ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung selbstverständlich nicht möglich. Unumgänglich erscheint es hingegen, Endes Verhältnis zur Anthroposophie zumindest in vorläufiger Weise zu klären, nicht zuletzt, da ein begründeter Verdacht, Endes Denken würde letztlich in »okkulten Lehren« fußen, die vorliegende Untersuchung zu einem äußerst zweifelhaften Unternehmen machen würde. Zwei Fragen mögen hierbei hilfreich sein. Erstens: Welche Elemente und Motive in Endes Werk lassen sich – direkt oder indirekt – auf den Einfluß Steiners zurückführen? Zweitens: Inwieweit war, unabhängig davon, Endes Weltbild anthroposophisch geprägt?
Vorneweg: Direkte Anleihen bei Steiner sind in Endes Werk so gut wie nicht zu finden. Die zweimalige beiläufige Erwähnung des anthroposophischen Grundbegriffes Astralleib (bei Ende: »Sternenleib«, s. Niemandsgarten 136 bzw. 273) in Skizzen, die wahrscheinlich nie zur Veröffentlichung gedacht waren, ist fast schon alles, was die Recherche zu Tage zu fördern vermag. Eventuell könnte man noch die »Elementargeister« aus dem Wunschpunsch (25 sowie 193 ff.) mit den gleichnamigen Wesen der Steinerschen Mythologie identifizieren oder die Reinkarnationsphantasie des alten Beppo in Momo (39 f.) mit der Anthroposophie in Verbindung bringen – aber hier befinden wir uns bereits auf schwankendem Boden. (Zum Vergleich: Allein in Momo findet etwa Sôiku Shigematsu Dutzende Bezüge zum Zen-Buddhismus, mit dem sich Ende zur Zeit der Niederschrift intensiv befaßte.)40 Daraus zu schließen, die Anthroposophie habe in Endes Denken kaum eine Rolle gespielt, wäre indes voreilig. Eher ist hier an Endes Arbeitsweise zu denken, die auf die Schaffung kraftvoller, vorstell- und damit erfahrbarer Bilder abzielte.41 Da sich aber die Kernbegriffe des Steinerschen Okkultismus wie etwa »Ätherleib«, »Astralleib« oder »Karma« dieser unmittelbaren Bildlichkeit weitgehend entziehen, waren sie für Endes spezifische »Poetologie« offenbar schlicht unbrauchbar.42
Wenn also direkte Anleihen aus der Anthroposophie in Endes Werk nicht oder in nur ganz unwesentlichem Ausmaß anzutreffen sind, wäre weiters zu fragen, inwieweit die großen Themen, die sein Werk nach der Grundthese der vorliegenden Arbeit durchziehen, von den Lehren Steiners inspiriert oder angeregt wurden, ob sich also Endes Kritik des Kapitalismus oder die Betonung des Schöpferischen im Menschen in irgendeiner Weise auf eine anthroposophische Prägung zurückführen lassen. Indes ist erstere keineswegs ein zentrales Thema Steiners. Ansätze dazu sind am ehesten noch in der durch die »Vergöttlichung« der Natur (deren Begriff bei Steiner allerdings völlig unklar bleibt) bedingten Absage an »entnatürlichte« Lebens- und Produktionsformen zu finden – nicht umsonst brachte die anthroposophische Bewegung die ersten Ansätze bewußt ökologischer Landwirtschaft mit sich.43 Die antikapitalistische Zielrichtung der Anthroposophie, wenn es eine solche denn gibt, ist also durch den Imperativ »Zurück zur Natur« geprägt – der in den Werken Endes, dessen »Helden« fast durchwegs Städter sind, keinen nennenswerten Widerhall findet. Daß er sich, wie etwa im Wunschpunsch, oft in pronouncierter Weise gegen den ökologischen Raubbau durch kapitalistische Gesellschaften wendet, kann man wohl kaum seiner anthroposophischen Prägung zuschreiben. Wer also nach biographischen Grundlagen für Endes Kapitalismuskritik sucht, wird zweifellos weit eher bei Bertolt Brecht als bei Rudolf Steiner fündig.
Anders verhält es sich mit jener Betonung, ja Beschwörung des Schöpferischen im Menschen, die sich wie ein Refrain durch das Endesche Schaffen zieht und die – so die oben in Abschnitt A.3 geäußerten Thesen zutreffen – einen der Eckpfeiler seines Denkens bildet. Nicht nur finden wir hier ein zentrales Motiv der Anthroposophie wieder, es läßt sich auch unschwer biographisch verorten: Neben der generellen Prägung durch jenes Künstlermilieu, in dem Ende aufwuchs und in dem er sich zeit seines Lebens heimisch fühlte, waren es zweifellos die Jahre an der Waldorfschule Stuttgart, die ihm die Bedeutung menschlicher Schaffenskraft vor Augen führten. Tatsächlich zählt es zu den wichtigsten Prinzipien der Waldorfpädagogik, die Schüler nicht nur theoretisch zu bilden, sondern zu eigenständigem kreativem Handeln zu ermutigen.44 Da jedoch Steiner jene Wertschätzung des Schöpferischen im Grunde Friedrich Nietzsche verdankt (s.o.), so scheint es, als habe Ende in seinem Werk vor allem jene Teile des Steinerschen Denkens verarbeitet, die eigentlich auf Nietzsche zurückgehen. Hiermit wird sich die vorliegende Untersuchung noch zu beschäftigen haben.
Es bleibt zu fragen, inwieweit, ganz unabhängig von seinem Werk, Endes Weltbild von der Anthroposophie und vergleichbaren »okkulten Systemen« (Kowatsch) geprägt war. Roman Hocke, der dem Autor nicht nur als Lektor, sondern auch als persönlicher Freund nahestand, meint hierzu:
[Michael Ende] hatte in der Tat ein magisch-mystisches Weltbild. Es war ein Amalgan aus den verschiedensten Denkrichtungen und Religionen – von der Mystik Jakob Böhmes, der Anthroposophie, dem Zen-Buddhismus, der christlichen Theologie bis hin zu Spiritismus und Kabbala. Wie in seinen Theaterstücken, in denen er sich häufig verschiedener Genres bediente, war Michael Ende auch in geistigen Belangen ein Synkretist, der sich aus dem Bestehenden heraussuchte, was ihm das Beste erschien. Nie aber war er der Jünger eines Meisters.45
»Okkulte Wahrheiten« waren Ende also keineswegs fremd. Ob nun jenes »magisch-mystische Weltbild« Ende für die Anthroposophie offen machte oder doch eher umgekehrt, wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht zu klären sein. Eine andere Frage drängt sich hingegen auf: Müssen wir nicht annehmen, dem »Denkwebel« Ende (Rainer Lübbren)46 sei sein geistiger Synkretismus selbst durchaus bewußt gewesen? Daß sich der Autor, wie Hocke deutlich genug meint, »in geistigen Belangen […] aus dem Bestehenden heraussuchte, was ihm das Beste erschien«, läßt sich mit der Idee unmittelbar »geschauter« Wahrheiten im Sinne Steiners jedenfalls kaum vereinbaren. Ist es nicht viel wahrscheinlicher, daß Ende den einzelnen Komponenten seines »magischen« Weltbildes gerade deshalb Wirklichkeit zugestand, weil sie ihm eben keine »Offenbarungen von oben«, sondern ausgewählte Produkte der menschlichen schöpferischen Kraft waren?