Michael Endes Philosophie. Alexander Oberleitner

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Michael Endes Philosophie - Alexander Oberleitner Blaue Reihe

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unendliche Geschichte«

      MOMO

      In der Ruine eines Amphitheaters am Rande einer südlichen Großstadt taucht plötzlich ein etwa zehnjähriges Mädchen auf, das sich dort häuslich niederläßt. Auf die Fragen der besorgten Bewohner des Viertels hin stellt sich heraus, daß es aus einer Art »Heim« ausgerissen ist, wo man es geschlagen, aber weder lesen noch schreiben noch rechnen gelehrt hat, sodaß es nicht einmal sein eigenes Alter kennt (»Soweit ich mich erinnern kann, war ich immer schon da« (MO 13)). Selbst seinen Namen, Momo, hat es sich selbst gegeben. Ihre Nachbarn beschließen, sich gemeinsam um Momo zu kümmern, und freunden sich mehr und mehr mit dem stillen, schüchternen Kind an. Dabei zeigt sich, daß es eine scheinbar alltägliche, tatsächlich aber beinah magische Fähigkeit besitzt: Momo kann zuhören wie niemand andrer. »[…] sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, daß sie in ihm steckten.« (17)

      Aber die intakte Gemeinschaft, in der Momo nun lebt, ist wie die ganze Stadt einer schleichenden, fast unsichtbaren Bedrohung ausgesetzt. Überall tauchen namen- und gesichtslose graue Herren auf, die sich als »Agenten« einer »Zeit-Spar-Kasse« ausgeben und immer mehr Menschen überreden, Zeit zu sparen, indem sie die Angst ihrer Zielpersonen vor dem Tod ebenso geschickt ausnutzen wie deren diffusen Wunsch nach einem besseren Leben. Am Beispiel des kleinen Friseurs Fusi zeigen sich die drastischen Folgen ihrer Kampagne: Er entsagt allen »nutzlosen Dingen« (64), verzichtet auf Gespräche mit seinen Kunden, läßt seine sozialen Kontakte verkümmern und schiebt sogar seine betagte Mutter ins Altersheim ab – alles, um »Zeit zu sparen« und so die Möglichkeit zu haben, irgendwann »das richtige Leben zu führen« (62). Dieses will und will sich indes nicht einstellen. Im Gegenteil: Das grassierende Zeitsparen führt gerade dazu, daß immer mehr Menschen immer weniger Zeit und damit Lebensfreude bleibt – was aber wiederum die betrogenen Zeitsparer erst recht in ihrem hektischen und verzweifelten Tun antreibt. Schließlich wandelt sich auch das Antlitz der Stadt selbst, die in atemberaubendem Tempo in eine funktionale Wüste völlig gleichförmiger Betonblocks umgestaltet wird.

      Allein die kleine Momo bleibt von dem allgemeinen Zeit- und Lebensverlust unberührt. Ihr, die ihre Zeit freigiebig an ihre Freunde verschenkt, ist das Prinzip des »Zeitsparens« völlig fremd, was sie gegen die Methoden der Grauen Herren immun macht. Trotz oder gerade wegen ihrer Passivität wird Momo so zum Zentrum jener, die sich der rasant fortschreitenden Funktionalisierung aller Lebensbereiche noch widersetzen. Als schließlich einer der »Agenten«, der sie mit teurem Spielzeug zu bestechen versucht, dem konsequenten Zuhören Momos unterliegt und das Geheimnis der »Zeit-Spar-Kasse« preisgibt (»alle Zeit, die sie einsparen, ist für sie verloren … Wir reißen sie an uns … uns hungert danach …« (99)), beschließen die Grauen Herren, sich des Mädchens zu bemächtigen.

      Da wird Momo Hilfe von unerwarteter Seite zuteil. Gerade rechtzeitig taucht eine Schildkröte namens Kassiopeia auf, rettet das Kind vor dem Zugriff der Grauen Herren und führt es langsam, aber zielstrebig durch einen seltsamen Stadtteil »aus dem Bereich der Zeit« (139) hinaus in die »Niemals-Gasse« zum »Nirgend-Haus« des geheimnisvollen Meister Hora. Hora, der einmal als Greis, einmal als Kind erscheint, nimmt Momo freundlich auf und gibt sich ihr als »Verwalter« aller menschlichen Zeit zu erkennen. Er klärt das Mädchen über das paradoxe Wesen der Grauen Herren auf (»In Wirklichkeit sind sie nichts« (155)), die sich von gestohlener menschlicher Zeit nähren. Um Momo gegen sie zu wappnen, führt er sie dorthin, »wo die Zeit herkommt« (162). Das Mädchen findet sich in einer gewaltigen goldenen Kuppel wieder, wo ein geheimnisvolles Pendel aus Licht eine Blume von vollkommener Schönheit nach der nächsten zum Er- und Verblühen bringt. Es sind die Stunden-Blumen der menschlichen Zeit. Nach und nach nimmt Momo im Klang des Pendels die verschiedenen »Stimmen« der Dinge wahr, die sich in Harmonie ineinanderfügen. Sie begreift, daß alle Kräfte des Universums, »bis hinaus zu den fernsten Sternen«, zusammenspielen müssen, um eine einzige der Stunden-Blumen hervorzubringen. »Und es überkam sie etwas, das größer war als Angst« (166). Zurück im Nirgends-Haus offenbart ihr Hora, daß sie in ihrem eigenen Herzen war. Als sie ihn bittet, ihren Freunden von der Musik der Sterne erzählen zu dürfen, versetzt er sie in einen tiefen Schlaf, »bis die Worte in dir gewachsen sein werden« (168). Erst viel später erwacht sie in ihrer Wohnstatt im Amphitheater.

      Aber während Momo »Jahr und Tag« (190) geschlafen hat, hat sich ihre Welt verändert. Die Umwandlung der Stadt in eine perfekt funktionierende Maschinerie ist weitgehend abgeschlossen; alle früheren Freunde sind entweder kraftlos in ihr gefangen oder durch Erfolg und scheinbare Macht korrumpiert. Momo leidet unter bitterer Einsamkeit und empfindet ihren Reichtum an Zeit nun, da sie ihn mit niemandem teilen kann, zum ersten Mal als drückende Last. Darauf haben die Grauen Herren nur gewartet. Sie versuchen das Mädchen mit dem Versprechen zu ködern, seinen Freunden alle Zeit zurückzugeben, wenn es sie nur den Weg zu Meister Hora führe. Sie wollen aufs Ganze gehen und sich der Zeit aller Menschen auf einen Schlag bemächtigen. Momo jedoch weist sie ab, zumal sie auch den Weg selbst nicht kennt. Als sie aber wenig später zum zweiten Mal von der Schildkröte Kassiopeia in die Niemals-Gasse geführt wird, gelingt es den Grauen Herren, den beiden unbemerkt zu folgen und das Nirgends-Haus, in das sie selbst nicht eindringen können, zu belagern. Mit dem Rauch ihrer Zigarren, ohne die sie keine Sekunde existieren können und deren Tabak aus ihren Besitzern entrissenen Stunden-Blumen besteht, wollen sie die von Hora ausgesandte Zeit vergiften und so alle Menschen mit einer Krankheit namens »die tödliche Langeweile« (244) infizieren.

      In dieser dramatischen Situation entschließen sich die Belagerten zu einem verzweifelten Schritt. Hora, der stets wach bleiben muß, um die Zuteilung der Zeit nicht zu unterbrechen, schläft ein und läßt die Welt dadurch erstarren. Ausgenommen sind nur Momo, die eine ihrer Stunden-Blumen (»eine einzige, weil ja immer nur eine blüht« (245)) und damit eine Stunde Zeit erhält, Kassiopeia, die »ihre eigene kleine Zeit in sich selbst [trägt]« (247) – und die Grauen Herren, deren Zeitnachschub allerdings schlagartig zusammenbricht. Als sie daraufhin in Panik zu den »Zeitvorräten« im Tresorraum ihrer unterirdischen Zentrale streben, werden sie unmerklich von dem Mädchen und der Schildkröte zum Versteck der gestohlenen Stunden-Blumen verfolgt. Durch eine Berührung mit ihrer Stunden-Blume gelingt es Momo, die Tür des Tresorraums zu schließen, worauf sich die Grauen Herren, deren Zigarrenvorrat zur Neige geht, einer nach dem anderen in nichts auflösen. Als der letzte verschwunden ist, öffnet Momo die Tür wieder und befreit damit die Zeit der Menschen, die die Welt aus ihrer Erstarrung löst und in einem gewaltigen Sturm zu ihren Besitzern zurückkehrt.

      DIE UNENDLICHE GESCHICHTE

      In das verschlafene Antiquariat Koreander stolpert eines Novembermorgens ein regennasser zehn- oder elfjähriger Junge namens Bastian Balthasar Bux. Er befindet sich auf der Flucht vor seinen Schulkameraden, gegen deren bösartige Streiche er sich nicht zu wehren wagt. Auch sonst ist Bastian, wie Herr Koreander bald abschätzig feststellt, »ein Versager auf der ganzen Linie« (UG 9): Er ist dick, unsportlich und ein miserabler Schüler. Aber wie die kleine Momo jenes des Zuhörens, besitzt auch er ein ebenso verborgenes wie wunderbares Talent: Er ist ein begnadeter Träumer. »[V]ielleicht war es das einzige, was er wirklich konnte: sich etwas vorstellen, so deutlich, daß er es fast sah und hörte. Wenn er sich selbst seine Geschichten erzählte, dann vergaß er manchmal alles um sich herum« (26). So ist es nicht verwunderlich, daß er sich magisch von einem Buch namens Die unendliche Geschichte mit »Einband aus kupferfarbener Seide« und »wunderschöne[n] große[n] Anfangsbuchstaben«47 angezogen fühlt, das der beschäftigte Koreander einige Augenblicke zur Seite gelegt hat. Kurz entschlossen nimmt er es an sich und läuft davon. Als ihm schlagartig klar wird, daß er gestohlen hat, wagt er sich nicht mehr zu seinem Vater nach Hause, sondern schleicht sich auf den Dachboden seiner Schule, wo er, auf einem Mattenlager sitzend, Die unendliche Geschichte zu lesen beginnt.

      Zu

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