Rattes Gift - Ostfriesland-Krimi. Mischa Bach

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Rattes Gift - Ostfriesland-Krimi - Mischa Bach

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eben die ganze verfluchte Friesenidylle. Also war der Bulli immer weitergefahren, bis er schließlich das Nichts hinter Tennisanlage und Schrebergärten erreichte. Leer und verlassen stand er nun da, während seine Insassen – ein dünner, junger Mann in zerfetzter Jeans, bemalter Lederjacke und ausgelatschten Docs, und eine undefinierbare Promenadenmischung, die nur auffiel, weil sie im Gegensatz zu allen anderen punkerbegleitenden Vierbeinern Leers schmutzbraun statt nachtschwarz war – ein paar Straßenecken weiter nahe der Fetenscheune auf ihre Art beschäftigt waren.

      Hier gab es keine Idylle, das hätte auch nicht zum »harten« Ruf der derzeit angesagtesten Diskothek der Stadt gepasst: ein rechteckiger Kasten, der dank Farbgebung und Elchkopf im Comicdesign eher an ein schwedisches Möbellager denn eine Scheune erinnerte, drumherum Parkplätze, gesichert mit flutlichtbewehrtem, übermannshohem Stahlzaun, der einem Kriegsgefangenenlager alle Ehre gemacht hätte. Dennoch strömten jedes Wochenende die Besucher in Scharen hierher. Schönheit liegt eben im Auge des Betrachters. Für Ratte war die leere Wand nahe der Fetenscheune eine riesige Leinwand und Lusche, sein Hund, hätte auf feinsten Kissen nicht besser geruht als auf seines Herrchens altem Rucksack am Rand der Straße. Ratte war ganz in seine Spray-Arbeit versunken. Schritt für Schritt, Farbe für Farbe, Schicht für Schicht entstand der Schriftzug der Punkband Rotzgeier, dazu das Logo eines Indie-Festivals bei Wilhelmshaven und – aber gerade, als er zur nächsten Zeile des Schriftzugs ansetzen wollte, bellte Lusche einmal leise. Ratte steckte die Spraydose in die Jacke und zog den Reißverschluss hoch. Ohne hinzusehen, nahm er Lusche den Rucksack ab, den der ihm schwanzwedelnd präsentierte. Zwei, drei Schritte zur Seite, und die beiden waren im dunlen Schatten eines Mauervorsprungs verschwunden. Die Straße lag leer, scheinbar verwaist.

      Erst jetzt hätte ein menschlicher Beobachter das Auto hören und sehen können, das sich der Straße mit der großen, nun nicht mehr ganz so leeren Wand näherte. Ein paar Meter weiter bog es auf den nicht mal halb gefüllten Parkplatz der Fetenscheune ein. Das Licht ging aus, das Motorengeräusch erstarb, und alle vier Türen des etwas angejahrten Wagens flogen auf. Zwei Pärchen stiegen aus, lachend, nichts ahnend, weder das Graffiti noch sonst etwas in ihrer Umgebung weiter beachtend. Nein, die vier hatten nur Augen füreinander und für den kurzen Weg zur Diskothek.

      Charlies Augen dagegen klebten am Bildschirm ihres Laptops, das im Hinterzimmer des Toutes Françaises so deplatziert wirkte wie sie selbst: Mit ihrem edlen Kaschmirpulli und der teuren Lederjacke passte sie wahrlich nicht zum abgenutzten Linoeleumboden, dem alten Holzschreibtisch, dessen Kanten durch jahrelange Abnutzung abgerundet waren, sowie den Aktenschränken aus schlecht furniertem Sperrholz unbestimmter Farbe. Angesichts all dieser Überreste aus den 50er und 60er Jahren wirkte der klobige Bürorechner, mit dem Charlies Laptop per Netzwerkkabel verbunden war, geradezu wie ein Ausbund an Modernität – und das, obwohl das Ding sicher eine ganze Weile vor der Jahrtausendwende zusammengeschraubt worden war. Charlie war froh, unter den Kabeln, die Kara ihr mitgegeben hatte, passende gefunden zu haben, mit denen sich wenigstens eine erste, sozusagen oberflächliche Verbindung zwischen den beiden Geräten herstellen ließ. Ob diese reichen würde, ob sie so an das rankäme, was sie alle so dringend suchten, konnte sie noch nicht sagen. Wirre Datenketten rauschten über den Bildschirm des Laptops, und das einzig Lesbare darunter war immer wieder nur Data String not found.

      Charlie seufzte. Das konnte dauern. Musik wäre jetzt gut, eine italienische Oper oder etwas Moderneres, vielleicht französische Chansons von Patricia Kaas. Ganz automatisch griff sie nach ihrer Jacke, um ihren geliebten CD-Player hervorzuziehen. Sie mochte weder IPods noch sonstige MP3-Player, hässliche, winzige Plastikteile, die sie an den Insulin-Pen ihrer Mutter erinnerten. Musik war mehr als ein Haufen Daten, die man sich irgendwo herunterlud. Natürlich wusste Charlie, dass ihre geliebten Klangwelten auf den Silberscheiben auch nur aus den allfälligen Einsen und Nullen bestanden, aus denen heutzutage alles zu bestehen schien, das nicht reine Materie war. Dennoch – CDs konnte man anfassen, sie waren reale Objekte, man konnte sie sammeln und sehen, sie aufbewahren und archivieren. Jedenfalls theoretisch. Praktisch war das gerade unmöglich, denn in ihrer Lederjacke war nichts: Stimmt, der CD-Player hatte, wie die CDs, in ihrem weißen Golf bleiben müssen. Keine USB-Sticks, keine CD- oder DVD-Brenner, kein WLAN, darauf hatte ihr Auftraggeber Torben bestanden. Sie sollte ihm Zugang zu den Daten verschaffen, die bislang den reibungslosen Ablauf aller Geschäfte von Toutes Françaises – Französisches für Friesland, Friesisches für Frankreich garantiert hatten, ohne diese Daten zu kopieren, zu stehlen, weiterzuverkaufen oder dergleichen. Um das zu gewährleisten, hielt er sich so weit wie möglich an das Credo des verstorbenen Buchhalters und Computerexperten der Firma, der stets darauf bestanden hatte, Vernetzung sei etwas für Spinnen und Spinner, nicht aber für Export-/Import-Geschäfte, bei denen es um weit Berauschenderes als Foie gras, Champagnertrüffel und Bordeaux der Extraklasse ging.

      Tja, und so saß Charlie nun hier, in dem schäbigen Büro, vor dem Uraltrechner des Drogenrings und dem Laptop, das Kara zwar nach Torbens Anforderungen abgespeckt, doch zugleich entsprechend der Ziele der dahinterliegenden LKA-Ermittlung aufgemotzt hatte. Nur an Musik für Charlie hatte sie nicht gedacht. Also konnte sie nichts tun, als ab und zu nach Programmaufforderung Enter zu drücken, dem Rattern der Laufwerke zu lauschen und wieder und wieder Data string not found zu lesen ...

      Die beiden Pärchen fanden nach kurzer Diskussion mit dem Türsteher, was sie suchten, nämlich Einlass in die Fetenscheune. Einen Moment lang brandete die Tanzmucke lauthals in die Nacht, dann fiel die Tür hinter ihnen zu. Ratte atmete auf und trat aus dem schwarzen Schatten seines Verstecks an der Mauer. Er blickte zum Wagen, mit dem die vier gekommen waren – der war alt genug, deren Eltern gehört zu haben, und damit zu alt für funkgesteuerte Zentralverriegelung und anderen technischen Schnickschnack. Interessiert näherte sich der junge Mann dem Auto, das ganz am Rand des Parkplatzes stand. Ein Blick ins Innere, ein Blick auf die Umgebung, zugleich den großen Schraubenzieher aus der anderen Jackentasche gezogen und angesetzt. Ein kurzer, gezielter Schlag und das Schloss der Beifahrertür hatte es hinter sich. Ratte stand einen Augenblick still und lauschte. Nichts zu hören außer den gedämpft wummernden Bässen der Diskothek. Niemand zu sehen. Also öffnete er die Tür und stieg ein. Wieder kam der Schraubenzieher zum Einsatz, wieder dauerte es nur Sekunden, dann war auch dieses Werk getan. Noch eben die CD aus dem Schacht des Radio/ CD-Players gezogen – eine selbstgebrannte Musikscheibe – und auf den hinteren Sitz geworfen, ausgestiegen, die Tür geschlossen, das war’s. Oder war es doch fast, denn nachdem Ratte seine Beute im Rucksack verstaut hatte, fiel sein Blick wieder auf die Wand mit dem halbfertigen Graffiti. Da war noch was zu erledigen, denn ohne Datum nützte der Name des Festivals unter dem der Punkband so gut wie nichts. Als sei nichts geschehen, legte Ratte den Rucksack wieder hin und Lusche nahm seinen Platz ein, während sein Herrchen zur Spraydose griff.

      Charlie streckte sich beim Fenster des Büros und unterdrückte ein Gähnen. Stundenlange Konzentration am Rechner hatte ihren Preis, dachte sie, und rieb sich den Nacken, während sie einen Blick nach draußen warf. Vom Emspark, dem Einkaufsparadies auf der anderen Seite der Nüttermoorer Straße, blinkte es rhythmischbunt herüber, doch bei geschlossenen Fenstern blieb die Karaoke-Version des Fetenklassikers I will survive nahezu vollständig außer Hörweite. Charlie streckte sich erneut, fast schon gelangweilt, als sie plötzlich innehielt, weil sie etwas im Augenwinkel sah: Etwas hatte sich auf dem Display verändert! Sie stürzte zum Rechner und bemerkte kaum, dass im selben Augenblick die Tür zum Büro geöffnet wurde. Ein schlanker, großer Mann, gutaussehend, wenn man auf Solariumsbräune und regelmäßiges Kraft- und Ausdauertraining stand, kam mit einer bauchigen Milchkaffeetasse herein. Torben konnte durchaus charmant sein, wenn er wollte oder es für nötig befand.

      »Wow«, sagte Charlie, und drehte sich nun doch zu dem Mann um, »ein Auftritt wie aufs Stichwort.« Sie deutete aufs Display: Das Suchprogramm hatte angehalten, blinkend verwies es auf seinen Fund: »sauber.*« blinkte es dort. Dahinter stand unterlegt der Pfad zu einer versteckten Datei.

      »Heißt das, wir kommen der Sache näher?« Torben stellte die Tasse neben dem Laptop ab. Sie nickte und lächelte, war aber schon wieder ganz bei

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