Rattes Gift - Ostfriesland-Krimi. Mischa Bach
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»Sie muss da draußen sein!« rief er. »Los, raus, findet sie, verdammt!« Dann verschwand er aus dem erleuchteten Viereck des Fensters. Was immer er noch brüllte, war nicht mehr zu verstehen. Undefinierbarer Lärm und unverständliches Geschrei drangen aus dem Lagerhaus.
Die Frau rappelte sich inzwischen unten wieder hoch. Taumelnd, orientierungslos, mit letzter Kraft rettete sie sich dorthin, wo es ihr wohl instinktiv am sichersten schien: in den dunklen Toreingang der halbfertigen Halle gegenüber, genau auf Ratte lief sie zu.
»Scheiße«, murmelte der und trat seine Zigarette aus. Gerade rechtzeitig, um die Frau aufzufangen, die sonst vor seinen Füßen zusammengebrochen wäre. Ganz schön schwer, dachte er, dabei war sie nicht groß und schon gar nicht dick, nur eben bewusstlos, kein Lebendgewicht, sozusagen.
Lusche war beim ersten Lärm bereits an seine Seite geeilt. Jetzt schnüffelte der Hund neugierig an der Frau und wedelte mit dem Schwanz. Erwartungsvoll blickte er sein Herrchen an. Der schaute noch einmal rüber zum Toutes Françaises, wo jetzt hörbar das große Rolltor geöffnet wurde. Ohne weiter zu zögern, schleppte er die Frau zum Bulli und legte sie auf dem schäumstoffgepolsterten Teil der hinteren Ladefläche ab. Er schmiss die Schiebetür zu, riss die Fahrertür auf, stieß beinahe mit dem Hund zusammen, aber es ging gut. Lusche kannte ihn und den Bulli ja lang genug. Ratte startete das Ding und stieß zurück in Dunkel, nach hinten, weg vom Toutes Françaises, weg auch von den bewaffneten Männern, die jetzt auf ihn zustürzten. Der eine, der mit dem Vierkantschädel und der Bodybuilderstatur, zielte bereits auf den Bulli. Ratte wendete mit Vollgas, das wirbelte genug Baustellenstaub und Dreck auf, so dass der Kerl hustend verriss und in den Nachthimmel schoss.
»Lukas, verdammt, lass das, hol den Wagen«, hörte er die Stimme des Mannes, den er zuvor im Fenster des Lagerhauses gesehen hatte. Der andere wollte protestieren, so sah es jedenfalls im Rückspiegel aus, musste aber erneut husten. Ratte grinste in sich hinein, als er Gas gab und um die nächste Ecke in der Nacht verschwand. Die Verfolger der Frau waren fürs Erste zu harmlosen Comicfiguren im Rückspiegel geschrumpft.
An Comicfiguren mochten auch die Gestalten erinnern, die sich wenig später um den Bulli versammelt hatten. Der stand nun im Niemandsland zwischen Leer und Westoverledingen. Früher, noch bevor Otto Wiese in Breinermoor und Evert Heeren in Leer das Geschäft mit den Second-Hand-Rohstoffen vollständig unter sich aufgeteilt hatten, war das Gelände ein gutgehender Schrottplatz gewesen. Stadt und Gemeinde hatten sich sogar gestritten, wer die Gewerbesteuern kassieren dürfte. Doch bevor die »Stadt«- »Land«-Steuerfrage endgültig geklärt werden konnte, erkrankte der einstige Schrotthändler Sievert Grusinga. Und mit dem Verfall seiner Gesundheit verfielen auch die Geschäfte, der Schrottplatz und das Interesse der beiden Kämmerer, die plötzlich weise auf rechtliche bis gerichtliche Schritte zur Klärung der Ortszugehörigkeit verzichteten. Heute lebte hier Sieverts kleiner Bruder und Alleinerbe Heme, genannt Henry, zusammen mit seinen Freunden. Schließlich war das Haus, das mit seinem ersten Obergeschoss sogar den höchsten der es umgebenden Schrottberge überragte, allemal groß genug, um als »Autonome Zone« und »Home of the Rotzgeier« sämtliche Bandmitglieder samt allfälligen Besuchern zu beherbergen. Zumal – wer sonst hätte zwischen alten Autos und Alteisen mitten in der Kulisse eines vergessenen Filmes der Mad-Max-Reihe leben wollen?
Charlie wohl kaum. Aber Charlie fragte auch niemand, sie war vielmehr das stumme, weil bewusstlose Zentrum der eigentümlichen Szene. Sie lag noch immer auf der schaumstoffgepolsterten Ladefläche des VW-Busses, nur dass jetzt Henry neben ihr kniete und sie untersuchte. Die anderen standen gleich einem Haufen Comicfiguren oder Gestalten von einem anderen Stern, aus einer anderen Zeit, drumherum. Zoff starrte ins Unbestimmte und fuhr sich nur gelegentlich durch seinen schwarz-grünen Stachelkopf. Er hatte wohl mal wieder nicht schlafen können, unwahrscheinlich, dass er sich komplett bekleidet samt auf den Rücken geschobener E-Gitarre auf die Matratze gehauen hatte. Auch Glatze, ein Hüne, dessen Haarpracht auf ein millimeterkurzes blaues Anarchie-A mitten auf dem Hinterkopf reduziert war, sah müde aus, dennoch konnte er den besorgten Blick nicht von Henry und der bewusstlosen Frau im Bulli nehmen. Geli dagegen war nervös und überdreht wie immer. Er stapfte von einem Bein aufs andere, räusperte sich, grummelte, machte Geräusche und nervte damit vor allem Minka, seine gerade mal sechzehnjährige Freundin. Die stand schlotternd neben ihm, kein Wunder, die abgeschnittene Jeans und der übergroße Pulli waren nicht die passende Bekleidung, um an einem friesischen Wintermorgen draußen rumzustehen. Warum nahm der Blödmann sie nicht in den Arm und hielt sie warm? Wie bescheuert konnte man sein, dachte Ratte, aber das dachte er oft, wenn es um Geli ging. Bunny und Kippes, zwei Besucher der Rotzgeier, standen ein Stück abseits und spielten mit Lusche, soweit der das zuließ.
Ratte lehnte an der Schiebetür des Busses, rauchte, und versuchte, niemanden anzusehen und schon gar nicht irgendwie besorgt auszusehen. Die relative Stille kam ihm furchtbar vor, das machte ihn rattig, konnte Henry nicht langsam ... – warum waren sie gleich alle rausgestürmt und zum Wagen gekommen, als er hier ankam? Umwege war er gefahren, fast eine halbe Stunde lang, schätzte er. Er hatte sicher sein wollen, dass ihm niemand folgte. Aber ewig ausweichen, abtauchen, war nicht drin gewesen, denn die Frau, die ihm da vor die Füße gefallen war, der dunkelgelockte Engel mit dem Kugelloch irgendwo an der Schulter, das Wesen, das ihm all das eingebrockt hatte – sie hatte vermutlich nicht so viel Zeit.
»Glatter Durchschuss, denk ich«, sagte Henry endlich, und zog der Frau behutsam die Lederjacke über die rechte Schulter und das blutige Loch im Oberarm unterm Kaschmirpulli.
»Du hast echt den Arsch offen«, fuhr Geli Ratte an, »wie kannst du jemand mit ’nem Kugelloch hierher schleppen?!«
Ratte reagierte nicht. Minka zog Geli am Ärmel.
»Was?!« blaffte der.
Doch sie kam nicht zum antworten, denn Zoff war schneller: »Warum haste sie nicht gleich ins Krankenhaus gebracht? Musste immer alles hierher schleppen?!«
Ratte sah stur Henry bei seiner Untersuchung zu. Der hatte inzwischen den Oberkörper der Frau auf der Unterlage abgelegt und ihren Pulli samt T-Shirt hochgezogen. Darunter kamen dunkle Flecken, Folgen des Fenstersturzes wohl, zum Vorschein. Das sah nicht gut aus, dass so was verflucht wehtun konnte, wusste Ratte aus eigener Erfahrung. Er wandte sich ab – und fand sich praktisch in Zoffs Gesicht wieder, weil der einen Schritt auf ihn zu gemacht hatte. Ratte hob die Arme, ließ sie wieder sinken, seufzte, zuckte mit den Achseln, und als das alles nichts half, ihn immer noch alle böse beziehungsweise genervt aber allemal fragend anstarrten, antwortete er: »Was hätt ich denen sagen sollen? ,Schuldigung, bin ich drüber gestolpert, als ich am Emspark ’n Auto aufgebrochen hab?’«
»Was?« Während Zoff stumm den Kopf schüttelte und einen Schritt zurückmachte, als wollte er sagen, dir ist eh nicht mehr zu helfen, war Geli kurz davor, sich mit Ratte zu prügeln.
»Nur damit ich das richtig seh: Erst gehste auf ’ne Klautour, dann rennste den Bullen in die Arme, worauf du über die Alte hier fällst, und die schleppste dann hierher? Dir hamse doch ins Hirn geschissen!«
Inzwischen hatte Henry seine Untersuchung beendet. Er stand auf und kam nach vorn zur Schiebetür. Minka trat von der anderen Seite an Geli heran und zog ihn erneut am Arm.