Rulantica (Bd. 1). Michaela Hanauer
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»Versprochen«, sagt Aquina.
Ein klitzekleines bisschen ist sie enttäuscht, obwohl sie eigentlich wusste, wie es ausgehen würde. Sie gönnt Jade und den anderen den Spaß an den Oberfelsen, die am Rand der Stadt liegen. Sie überlegt sogar, doch mitzugehen, aber es zieht sie einfach wie magisch noch viel weiter nach oben.
Aquina gleitet durch das Wasser. Beinahe schwerelos, nur ab und zu gibt sie sich einen sanften Schub mit ihrem Fischschwanz. Sie hat es nicht eilig. Unten in der Tiefe, wo Aquamaris liegt, sehen fast alle Farben so aus, als läge ein bläulicher Filter darüber, besonders bei Rot und Gelb ist das so. Doch je näher sie ihrem Ziel kommt, desto verheißungsvoller zaubert die Sonne satte hellgelbe Lichtpunkte auf die Wasseroberfläche, von denen Aquina beinahe hypnotisch angezogen wird. Wieso bloß kommen die anderen Meermenschen so gut wie nie nach oben? Sie liebt die Sonne, die Wärme und die klaren Farben. Mit einem glücklichen Seufzer legt sie sich auf den Rücken und lässt sich von den Wellen tragen. Die Welt ist einfach sorglos hier oben. Ewig könnte sie so liegen. Aquina blinzelt in die Sonnenstrahlen, die sie auf der Nase kitzeln. Wie es wohl wäre, ein Mensch zu sein, so wie ihre Vorfahren? Aquina kneift die Augen zusammen, als sie darüber nachdenkt.
Von ihrer Mutter weiß sie, dass ihre Vorfahren ursprünglich Menschen waren – Wikinger –, als sie nach Rulantica kamen. Ihr Anführer hieß Viken Rangnak, der für seinen Clan eine neue Heimat suchte, nachdem das karge Eiland, von dem sie stammten, sie kaum noch ernährte. Für seine Suche bat er die alten nordischen Götter um Hilfe. Zunächst schien ihn keiner zu erhören, und die Wikinger kreuzten ziellos durchs Nordmeer, bis sich schließlich der listige Gott Loki zu erkennen gab. Er brach ein Horn seines mächtigen Helms ab, übergab es Viken und wies ihn an, nach einem weiteren Tag auf See hineinzublasen, sobald er auf eine dichte Nebelwand stoßen würde. Viken hielt sich an Lokis Anweisungen und tatsächlich tauchte aus dem Nebel eine verheißungsvolle Insel auf. Viken und sein Clan erkundeten sie und beschlossen, dort sesshaft zu werden. Sie nannten die Insel Rulantica. Und so heißt sie bis heute.
Unter der Insel wiederum liegt Aquamaris, die Unterwasserstadt, in der Aquina lebt. Nach Odins Fluch wurden die Wikinger zu Meermenschen. Damit weder Aquina noch die anderen Sirenen jemals vergessen, wie alles angefangen hat und warum sie hier sind, hat Kailani den Friggtag eingeführt, an dem sie vom Fluch Odins, für immer auf die Quelle des Lebens achten zu müssen oder von Svalgur verschlungen zu werden, und natürlich von Friggs Prophezeiung berichtet. Aquina kann diese Geschichte selbst im Schlaf in- und auswendig. Das kommt daher, dass ihre Mutter Kailani gleichzeitig die Anführerin der Sirenen ist. Aquina weiß, dass sie als Kailanis Tochter viele Vorteile hat: ein schönes Zuhause im Muschelpalast, Zugang zu zahlreichen Sagen und Legenden … aber die vielen Verbote sind eindeutig die Kehrseite.
Aquina hebt leicht den Kopf aus dem Wasser und schielt hinüber zum Land, das nur ein paar Meter von ihr entfernt aus dem Wasser ragt. Einsam und friedlich liegt die Insel da. Zu dumm, dass ihre Vorfahren damals nicht ahnten, in welche Falle der fiese Loki sie gelockt hatte. Sonst wären sie heute noch Menschen und Aquina könnte sich die ganze Welt ansehen und wäre nicht an die Dreimeilenzone rund um Rulantica gebunden. Und sie könnte so schön singen, wie sie wollte, und müsste kein schauriges Skjol von sich geben, um Eindringlinge abzuwehren.
Bei ihren Ausflügen an die Oberfläche stellt sie sich oft vor, wie ihre Vorfahren in der Wikingersiedlung Rangnakor zu leben. Auch vom Wasser aus kann sie heute noch ein paar der hohen Pfahlbauten mit den geschnitzten Giebeln aus Holz ausmachen. Die Farbe der Balken ist längst abgeblättert, die Bauten sind verwittert und zum Teil eingestürzt, andere werden von Raubvögeln wie den großen schwarzen Mauks als Nistplätze benutzt. Aber in Aquinas Fantasie sitzt sie mit Viken an einer Feuerstelle, rührt in einem großen Kessel und bereitet sich auf die Fahrt mit einem der stolzen Wikingerschiffe vor. Sie will neue Städte und Länder entdecken, mit Menschen reden, die sie nicht schon ihr ganzes Leben lang kennt, und Abenteuer erleben. Oder wenigstens alle Winkel der Insel erkunden, die sie vom Wasser aus nicht sehen kann. Wie es sich wohl angefühlt hat, an Land zu leben und überall hingehen zu können?
Kailani könnte es ihr erzählen, denn sie gehört zu den Uralten, den Unsterblichen, die damals von Menschen in Meermenschen verwandelt wurden. Doch immer wenn Aquina damit anfängt, wiegelt ihre Mutter nur ab: »Wir konnten dafür nicht so gut schwimmen.«
»Ihr konntet es wenigstens ein bisschen«, entgegnet Aquina dann ungeduldig, »aber ich kann gar nicht laufen, nicht einmal kurz!«
»Glaub mir, im Meer ist es viel schöner als an Land«, will Kailani sie jedes Mal beruhigen und vergisst doch nie zu mahnen: »Halte dich fern von Rulantica! Auch vom Wasser aus, hast du verstanden? In der alten Pfahlstadt sollen sich gefährliche Wesen angesiedelt haben. Das ist nichts für ein junges Meermädchen wie dich!«
»Gefährliche Wesen gibt es hier doch auch. Eishaie und Teufelsrochen zum Beispiel«, hat Aquina ihr nicht nur einmal entgegengehalten.
Aber Kailani lässt sich in diesem Punkt nicht umstimmen. »Das ist etwas ganz anderes. Den Umgang mit den Gefahren im Meer hast du gelernt, von mir, von Papa und in der Schule. Darauf bist du vorbereitet, auf die Landgefahren nicht!«
Die Warnungen machen die Insel für Aquina aber nur interessanter. Seit einiger Zeit wagt sie sich immer näher heran und versucht, so viel wie möglich von der Inseloberfläche zu erspähen. Ihrer Mutter verschweigt sie diese Erkundungstouren wohlweislich.
Die Neugier und das Fernweh ziehen und zerren in Aquina wie das Brennen von Salz auf der Haut, wenn sie das Gesicht zu lange in die Sonne streckt. Sie kann es gerade noch aushalten, aber es geht nie ganz weg, solange sie nichts dagegen unternimmt.
Als ob jemand ihre Gedanken gelesen hätte, ertönt plötzlich ein ohrenbetäubendes Heulen, das selbst Larimas Skjol in den Schatten stellt. Blitzschnell rollt Aquina sich herum und hält Ausschau nach der Ursache. Nichts zu sehen. Doch das Geräusch kommt eindeutig von der Insel, und Aquina hat eine schreckliche Vorahnung, wer es sein könnte. In einer Geschwindigkeit, die selbst einen Schwertfisch wie eine Meeresschnecke aussehen lassen würde, schwimmt Aquina auf das Ufer zu.
Der Strand von Rulantica glüht in der Sonne. Er wurde deshalb früher Goldstrand genannt. Allerdings hat sich dort inzwischen allerlei Strandgut angesammelt. Hauptsächlich von den zahlreichen Schiffen, die Exena, die Anführerin der Quellwächter, hier im Laufe der Jahrhunderte versenkt hat und deren Wracks nach und nach angespült wurden.
Aquina schlängelt sich durch die Wrackteile und sieht sich gleichzeitig über Wasser um. Gerade noch kann sie einem Mast ausweichen, der knapp unter der Wasseroberfläche wie ein Speer nach oben ragt. Kratsch, mit ihrer Flosse schrappt sie gleich über den nächsten Mast. Hoffentlich hat sie dabei keine Schuppen angeschrammt. Sie taucht mit dem Kopf unter Wasser, um sich wenigstens kurz zu orientieren, wo die nächsten Hindernisse lauern. Es ist purer Leichtsinn, sich in das Labyrinth der Schiffswracks zu verirren. Es gibt nur einen, der leichtsinnig genug wäre, es trotzdem zu riskieren, um zum Strand zu gelangen …
Schon von Weitem bestätigt sich ihr Verdacht. Im goldenen Sand bemerkt sie einen knallblauen kugeligen Kopf und fünf Fangarme, die wie wild durch die Gegend fuchteln. Der sechste Fangarm scheint irgendwie im angeschwemmten Abfall festzustecken, denn der kleine Kugelkopf zieht und zerrt und heult immer wieder herzzerreißend. So dicht sie kann, schwimmt Aquina heran, aber es liegt trotzdem noch mindestens eine Schiffslänge zwischen ihnen.
»Snorri!«,