Rulantica (Bd. 1). Michaela Hanauer

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Rulantica (Bd. 1) - Michaela Hanauer Rulantica

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dreht sich zu ihr. Im Gegensatz zu Aquina kann ihr Tintenfischfreund mit seinen sechs Armen auch an Land herumspazieren und normalerweise beneidet sie ihn darum, aber heute scheint ihm seine Neugierde zum Verhängnis geworden zu sein. »Was hast du dort verloren, Snorri? Der Strand ist doch gefährlich mit all dem morschen Krempel!«

      »SNRRR, SNG, SNGG!«, antwortet er schrill.

      Aquina weiß genau, dass er sie verstanden hat, auch wenn sie seine Sprache nur vage deuten kann. Aber um zu begreifen, dass er sich einen Arm eingeklemmt hat und deshalb nicht mehr vom Strand wegkommt, reichen Snorris Klagelaute vollkommend aus.

      »Was soll ich tun?«, jammert Aquina. »Ich kann nicht an Land, um dir zu helfen.«

      »SNNN-NN«, macht Snorri statt eines Vorschlags. Sein pinkfarbener Kamm am Kopf schwillt bereits feuerrot an vor lauter Anstrengung. Aquina versucht, sich ein Stück über die Wasseroberfläche zu stemmen, um zu sehen, wo Snorri festhängt, aber das ist aus der Entfernung unmöglich zu erkennen. Aquina spürt die aufkeimende Panik des kleinen Tintenfischs über die Wellen hinweg. Snorri ist zwar in der Lage, eine ganze Weile außerhalb des Wassers zu leben, aber wenn er sich nicht fortbewegen kann, ist er leichte Beute für Robben oder andere Raubtiere. Oder die Sonne trocknet nach und nach seine zarte Meereshaut aus. Aquina muss schlucken, sie kann doch nicht tatenlos zusehen! Ach, könnte sie einfach an Land gehen und ihren Freund aus dieser Lage befreien! Wenn sie doch bloß Beine hätte … Hat sie aber nicht, also muss ihr etwas anderes einfallen. Auf keinen Fall kann und will sie zusehen, wie ihr Tintenfischfreund so ein schreckliches Ende findet. Er ist der Einzige, der ihre Sehnsucht, noch mehr von der Welt zu erkunden, versteht, ganz ohne Worte. Und mit dem sie auf Streifzüge gehen kann, ohne sich anhören zu müssen, wie gefährlich das für ein Meermädchen ist.

      Snorri zieht weiter an seinem Arm, legt aber zwischendurch immer längere Pausen ein. Seine erschöpften Atemzüge dringen bis zu Aquina ins Wasser. Hektisch schaut sie sich um. Noch ist kein Feind in Sicht, aber eine Lösung leider auch nicht, außer diesen blöden Wracks. Moment! Vielleicht sind die verrottenden Schiffe gar nicht so blöd – Aquina taucht kurz ab und nimmt bei einem Schiff eine lockere Planke ins Visier. Ob die bis ans Ufer reicht? Sie löst die Planke vom Rumpf und taucht mit ihr zurück nach oben. Mist, die Holzlatte ist nicht lang genug! Aber wenn sie eine unversehrte wählt, die die volle Schiffslänge hat, dann müsste es klappen. Aquina taucht erneut ab und steuert das nächste geeignete Wrack an. Gar nicht so leicht, eine Planke abzumontieren!

      Aquina zerrt unter Wasser fast so wie Snorri oben. Zum Glück spielt zumindest das Gewicht im Wasser keine große Rolle, aber die alten rostigen Nägel, die die Bretter zusammenhalten, erfüllen auch nach langen Jahren noch erstaunlich gut ihre Aufgabe. Endlich, mit einem lauten Krack, lösen sich die mittleren Nägel, jetzt hängt alles nur noch an einer Seite. Aquina umfasst das Plankenende und zuckt zurück, als ihr ein schlangenförmiger Fisch entgegenschnellt – eine braungraue Wrackmuräne zeigt ihre spitzen Zähne. Aquina hat sie nicht nur aus ihrem Mittagsschlaf geweckt, sondern hat ihre Behausung zerstört und das nimmt sie ihr richtig übel. Sie faucht und stößt urplötzlich aus dem Innern des Wracks hervor, direkt auf Aquinas Gesicht zu. Mit den meisten Meeresbewohnern kommt Aquina prima aus, aber mit Muränen, vor allem mit Wrackmuränen, ist nicht zu spaßen. Doch heute kann sie nicht einfach verschwinden, Snorri ist viel zu wichtig! Aquina weicht im Zickzack aus, hält den linken Arm schützend vor ihr Gesicht und rupft mit dem rechten schnell weiter an der Planke. Nur ein Stückchen noch, dann gibt der letzte Nagel nach. Aber die Muräne hat ebenfalls eine Kehrtwende hingelegt und denkt gar nicht daran, den Abbau ihres Unterschlupfs tatenlos hinzunehmen. Sie schnappt zu. Uh, wie das brennt! Aquina beäugt die fiesen kleinen Löcher, die die Zähne auf ihrem Handrücken hinterlassen haben. Jetzt ist aber Schluss mit lustig! Das Meermädchen ist richtig geladen, und ohne weiter nachzudenken, brüllt sie die Muräne an: »VERSCHWINDE!«

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      Eine wütende kleine Welle drängt den Fisch zurück, er ist von diesem Ausbruch mindestens so überrascht wie Aquina selbst. Wahrscheinlich ist die Muräne es gewohnt, dass bereits bei ihrem Anblick alle fliehen, spätestens aber, wenn sie zubeißt. Kurz glotzt sie mit ihren runden weißen Augen, in denen die starren schwarzen Pupillen wie Tiefseekrater aussehen, dann tritt sie tatsächlich den Rückzug in den Schiffsbauch an.

      »Warum nicht gleich so?«, knurrt Aquina ihr hinterher. Sie reibt sich die Hand, bevor sie weiter an der Planke zerrt. »Dieses Ding muss doch endlich … Hilfe!« Beinahe wäre Aquina abgerutscht, als plötzlich doch der letzte Nagel nachgibt und wie ein Geschoss aus dem Schiffsrumpf geschleudert wird. Das lange Holzbrett federt hinterher und landet mit Schwung in Aquinas Armen. Auch wenn unter Wasser alles weniger wiegt, ist die Planke verdammt unhandlich, Aquina eiert von links nach rechts, in die Mitte und wieder nach links, sie kann das lange Ding kaum halten, geschweige denn ans Ufer zu Snorri schieben. Die ganze Mühe und der Biss umsonst!

      Aquina legt die Planke auf einem Schiffsdeck ab und streckt den Kopf aus dem Wasser, um nach Snorri zu sehen. Unverändert. Er hängt immer noch fest, nur seine Gegenwehr hat nachgelassen, weil ihm die Kraft ausgeht. Flehend winkt er ihr mit einem seiner freien Arme zu und lässt wieder einen Klagelaut hören, der Aquina antreibt. Sie muss eine Lösung finden! Neben ihr ragt etwas aus dem Wasser. Nicht besonders hoch, nur ein paar Schuppenlängen. Der höchste Mast des gesunkenen Schiffs und gleich darunter das, was die Seeleute Krähennest nennen: der Ausguck, in den sie den schwindelfreisten Matrosen schicken, damit er berichtet, wenn Land in Sicht kommt oder Gefahr droht. Das hat diesem Schiff allerdings nichts genutzt. Selbst wenn der Matrose aufgeweckt genug gewesen sein sollte, die Eiswelle vorher zu sehen, hätte er sich und die Mannschaft nicht retten können. Exena ist genauso eiskalt wie ihre Magie, und wenn sie ein Schiff bemerkt, das der Insel zu nahe kommt, dann ist es wenige Wellenschläge später bereits auf dem Weg zum Meeresgrund und mit ihm die gesamte Mannschaft, die zu Eisblöcken gefriert und keine Chance hat, dem sicheren Tod zu entgehen. Das unterscheidet Exena und die Quellwächter grundsätzlich von den Sirenen: Sie sorgen für handfeste Taten gegen die Menschen anstelle von reinen Abwehrgesängen und normalerweise findet Aquina das furchtbar. Aber nun kommt ihr der Mast des gesunkenen Schiffs wie gerufen. Wenn sie es schafft, die Planke bis hier hochzuhieven, dann könnte sie das Krähennest als Auflage benutzen.

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      Aquinas Gesicht läuft fast so rot an wie Snorris Kamm, als sie versucht, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Immer wieder rutscht die Planke ihr aus der Hand, beinahe schlägt sie sich selbst damit nieder, weil das dumme Teil anfängt, sich um sich selbst zu drehen.

      »Halte durch!«, ruft sie über das Wasser und meint damit genauso Snorri wie sich selbst.

      Sie könnte sehr gut Hilfe gebrauchen, aber es ist weit und breit niemand in Sicht, außer ein paar Schwarmfischen, die nicht einmal in der Lage wären, einen Nagel hochzuheben. Also gut, noch einmal! Mit der Kraft der Verzweiflung packt Aquina das Holzbrett, das schon wieder fast bis zum Grund gesunken ist. Vorsichtig, damit es nicht abdriftet, wuchtet sie es höher und höher. Sie wackelt und wankt, stützt die Planke zusätzlich mit ihrem Fischschwanz, kommt dadurch zwar langsamer, aber dafür stabiler voran. Als ob zumindest das Meer auf ihrer Seite ist, hält es diesmal ganz still, bis Aquina die Planke auf die Höhe des Krähennests gezerrt hat und ablegen kann. Ab jetzt ist es viel einfacher. Wie auf einer Schiene kann sie die Planke in Snorris Richtung schieben, ohne sie gleichzeitig anheben zu müssen.

      »Vorsicht!«, ruft sie ihrem Freund zu. »Hier kommt Hilfe!«

      Snorri beäugt das Brett zuerst wie eine Schlange, die es auf ihn abgesehen hat, und weicht, so weit wie es sein eingeklemmter Arm zulässt, zurück. Erst als er begreift, dass die Planke nicht vorhat, ihn zu fressen, sondern dass Aquina sie lenkt, beruhigt er sich etwas.

      »Na los, halt dich mit den freien Armen daran

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